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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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Sperrbezirke gezogen waren. Dies bedeutete: Obwohl die Sowjetunion von einem in der Tat unüberwindlichen »Eisernen Vorhang« umgeben war, war die Erfahrung von Grenze und Grenzüberschreitung etwas ganz Neues. Es war für die einen eine großartige, befreiende, für andere eine beklemmende, beängstigende Erfahrung – in jedem Falle aber ein den gewohnten Lebenshorizont erschütternder Vorgang.
    Grenzen sind das denkbar Eindeutige. Sie trennen Drinnen und Draußen. Sie verlaufen zwischen Diesseits und Jenseits. Sie sind der limes , der die zivilisierte Welt von den Barbaren trennt. Sie sagen einem, wer dazugehört und wer nicht. Grenzen sind die wichtigste Raumerfahrung, ebenso wie ihr Gegenteil: die Grenzenlosigkeit. Sie besagen: Hier hört etwas auf, hier fängt etwas an. Sie gliedern Territorien, die sonst nur formloser, leerer Raum wären. Sie geben etwas Gestalt. Wir können ohne Grenzen nicht leben. Ohne Grenze wären wir verloren. Und doch wird Grenze meist assoziiert mit Beschränkung, mit Einschränkung, mit beschränkt. Grenze ist ein Codewort für Unfreiheit, für Barriere, für Enge, während Grenzüberschreitung, Grenzenlosigkeit, gar Entgrenzung einen semantischen Mehrwert enthält und positiv aufgeladen ist. Noch nie ist ein Lob der Grenze gesungen worden, obwohl klar ist, dass es Kultur ohne Respektierung von Grenzen und ohne eine Kultur des Übergangs nicht geben kann.
    Wir haben alle solche Grenzen der Eindeutigkeit vor Augen. Die Berliner Mauer, diese Grenze ohne Wenn und Aber, diese Grenze im reinsten Zustand, die West und Ost trennte und deren symbolische Kraft vielfältig beglaubigt war: Man verging sich nicht ungestraft an ihr. Es wurde geschossen auf den, der die Hoheitsrechte missachtete und die Linie einfach überschritt oder über sie zu fliehen versuchte. Sie war ein markantes Bauwerk, das die Trennung einer Stadt in zwei Teile fast mit chirurgischer Präzision bewerkstelligt hatte. Wie mit dem Stift auf die Karte eingezeichnet. Mit einem kunstvoll aufgebauten Glacis, Beleuchtungs- und Warnvorrichtungen, einer nach Tausenden zählenden Mannschaft der Instandhaltung, Perfektionierung und Bedienung, versehen mit Vorrichtungen der Durchschleusung und Kontrolle. Sie war ein Instrument der Sicherung, der Abschnürung und des kontrollierten Durch- und Übergangs.
    Solche Grenzen gibt es überall, wo ein Konflikt sich zur vollen Schärfe entfaltet hat und auf Dauer gestellt ist. Dieser Typus von Vorrichtungen wird immer dann gebraucht, wenn Gegensätze unüberwindbar geworden sind und befestigt werden müssen, wenn der Ausnahmezustand zum Alltag wird. Nicht immer müssen es kunstvolle und technisch hochgerüstete Mauerwerke sein, Stadtmauern, Chinesische Mauern. In der Regel und in einem Jahrhundert, in dem die Verfeindung von recht instabilen Staaten zum Massenphänomen geworden ist, nimmt die Befestigung der Grenze eine modernere und beweglichere, fast ubiquitär einsetzbare Gestalt an. Neben den Mauern, die kämpfende und aktuell im Konflikt liegende Parteien oder Staaten auseinanderhalten – Ost und West in Berlin, Türkei und Griechenland in Zypern/Nikosia, die moderne Grenzanlage, die Nordamerika von Mexiko trennt –, gibt es die bewegliche, die ambulante, die Task-force -Form in Gestalt von Stacheldraht. Er ist weniger kostspielig, lässt sich überall und zu jeder Zeit ausrollen und bei Bedarf, nach Abkühlung der Spannungen, auch wieder einrollen. Mit Stacheldraht gesicherte Grenzen bezeichnen eher Kampflinien, Konfliktlinien. Solche Grenzen können sich von heute auf morgen verwandeln: Aus Demarkationslinien können Kampflinien und aus Kampflinien können Frontlinien werden, wie umgekehrt aus Frontverläufen irgendwann wieder harmlose Brachen und Areale werden können, denen nicht mehr anzumerken ist, dass hier einmal eine Grenze verlief: zwischen Gut und Böse, Rechts und Links, Freiheit und Unfreiheit usf. 2
Demarkationslinie und Grenzsaum
    Der gewöhnliche Fall der Grenze ist die Linie, die staatliche Territorien abgrenzt und Hoheitsgebiete voneinander trennt. Es sind Linien, die Herrschaft und die Gültigkeit von Herrschaftsansprüchen markieren. Grenzen umreißen Territorien, Staatsgebiete, Herrschaftsbereiche. In der Regel genügt die Markierung des Grenzverlaufs durch Grenzpfähle, vielleicht einen Wachturm oder einen Gitterzaun im Gelände. Doch die meisten Grenzen in der Welt sind unsichtbare Grenzen, grüne Grenzen, verlaufen eher auf unseren inneren Karten, im Kopf,

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