Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
durch Nachkriegseuropa ging, war die dem Ausnahmezustand angemessene Grenze. Sie hat unser Leben bestimmt, sie ging mitten durch unser Leben, selbst wenn wir nicht an der Grenze lebten. Sie gab jene Sicherheit, die die zum Äußersten entschlossene Gewaltdrohung eben geben konnte. An ihr teilte sich die Welt, die schwarz oder weiß, gut oder böse, frei oder unfrei war. Wir konnten uns im schwierigen Alltag verlieren, aber was unverrückbar blieb, war die Einfachheit jener Grenze. Sie war das Koordinatenkreuz, das den Raum definierte, in dem sich die Linie zwischen Leben und Tod, zwischen Erfolg und Misserfolg einer Generation eingezeichnet hat. Hier lehnte sich das verfeindete Europa Rücken an Rücken. Der Eiserne Vorhang war die insgeheime innere Achse, sein Rückgrat. Die über die Karte Europas gezogene Demarkationslinie war einmal der genaueste Ausdruck der Neuordnung der Welt nach dem Krieg, in der alles seinen angestammten Platz gewechselt hatte: Prag war zur Schwesterstadt von Ulan Bator geworden; Warschau wie Peking hatten einen »Kulturpalast« in ihrer Silhouette; Ostberlin lag von nun an in Osteuropa, während Westberlin sich aufmachte, amerikanischer als Amerika selber zu werden. Diese innere Achse ist 1989 verschwunden, weil die Welt, die sie einmal nötig gehabt hatte, sie nicht mehr brauchte.
Die Auflösung des Entweder/Oder
Die osteuropäische Revolution hat die klar gezogene Grenze unterlaufen und den hermetischen Raum zerfallen lassen, nicht eigentlich gesprengt. Die Vermischung von Reinen und Unreinen hat begonnen. Dass es so still vor sich ging, dass sich dort, wo wir gewöhnt waren, nur einen »Block« zu sehen, über Nacht eine neue Staatenwelt einrichten konnte, ist nicht denkbar ohne eine Selbstdisziplin, die Resultat jenes Wissens um das Risiko des nächsten Schrittes war, der nach aller Erfahrung immer auch der letzte sein konnte. Im Entweder/Oder findet sich fast jeder zurecht, in der Grauzone, in der die Geschichte gewöhnlich spielt, bedarf es stärkerer Begabungen. Die ostmitteleuropäischen Revolutionäre waren auf der Höhe der Zeit, sie hatten das Entweder/Oder, das für die Militärstrategen überlebenswichtig war, längst hinter sich gebracht. Sie waren Meister der Zweideutigkeit. Ihnen war die Bewegung, von der alles abhing, mehr als das Ziel, das sich von selbst verstand – und von dessen wiederholter Proklamation die Lage doch nicht anders wurde. Sie waren Genies der Taktik, noch mehr aber des Taktes. Sie hatten der Geschichte der politischen Theorie den lebensrettenden Kompromiss der »sich selbst beschränkenden Revolution« hinzugefügt. Sie waren selbstsicher genug, es auch mit den Generälen, ihren Peinigern, den verhassten Kreaturen aufzunehmen. Ihr Selbstbewusstsein litt nicht darunter, wenn sie, die ehemaligen Häftlinge und Dissidenten, mit den mächtigen Befehlshabern an einem runden Tisch saßen. Ihre Stärke war nicht eine Vision von der Zukunft, sondern die Bewältigung der Gegenwart. Ihre Tugend hieß Geistesgegenwart. Sie haben den Mächtigen den Weg in den Rücktritt eröffnet und dem Zerfall der alten Ordnung eine Form gegeben. Sie haben das in der Geschichte Menschenmögliche getan: dem Prozess, der im Gange war, ihre Stimme zu leihen und ihm die Chance abzugewinnen, die sich nach so viel Scheitern endlich bot. Sie haben ein Wunder zustande gebracht: die Entstehung einer neuen Staatenwelt, die nicht aus dem Krieg geboren wurde, und einen »Systemwechsel«, in dem es fast überall ohne Aufstand und Terror abging.
Transit Europa
In dem Europa, das in die Zeit nach der Großen Grenze entlassen ist, ist alles in Bewegung geraten. Das fing an mit dem Raum, in dem wir leben. Das Verschwinden der Mauer produzierte einen anderen Raum. Von Berlin nach Wrocław/Breslau waren es jetzt nur noch etwas mehr als zwei Stunden Fahrtzeit im Auto. Es gab die Grenze als Zone des angehaltenen Atems, der Einschüchterung, der Umstellung der inneren Zeituhr, der Demütigung durch das Beamtenpersonal nicht mehr. In Hegyeshalom, Cheb und Zgorzelec kann man noch die Ruinen der bürokratischen Reiseerschwerung besichtigen, Helmstedt ist bloß noch ein Parkplatz oder ein schönes Städtchen, von dem nur ältere Reisende wissen, dass er einmal mehr war: Grenzschleuse zwischen den Welten. Der Raum, in dem wir arbeiten, uns erholen, studieren, leben, wurde ein anderer – damit auch die Welt in unserem Kopf. Der Tourismus, der etwas erleben will, geht in die nächste Nachbarschaft, nicht
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