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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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geschichtsmächtig wird oder was nicht von Dauer ist und eben wieder zurückgenommen wird. Alexander Kulischer hat das die Flut und Ebbe der geschichtlichen Bewegung genannt – und damit gerade die geschichtliche, wenngleich naturwüchsige Seite gemeint –, und die ewige Wanderung war für ihn das Hauptagens geschichtlicher Bewegung. 9
    Noch in einem anderen Punkt sind Grenzen privilegierte Orte: Hier kann man Durchmischungs- und Transferprozesse, Amalgamierungen studieren, aus denen sehr oft etwas Neues hervorgeht. Die Grenze bietet einen Erkenntnispunkt besonderer Qualität. An der Peripherie sieht man anders und anderes als im Zentrum, das sich oft selbst genügt. Vielleicht stimmt es, dass viele neue Entwicklungen an der Peripherie, an der Außengrenze einsetzen und dass die Kerne neuer Reiche sich an der Außengrenze alter Reiche bilden. Man kann aus dieser Eigenschaft der Peripherie und der Grenze freilich selber wieder eine Ideologie machen und die Peripherie zum wahren Zentrum, die Marginalität zum »Eigentlichen an sich« stilisieren: die Grenze als der Ursprungsort des Originalen und Originellen, das Hybrid als das Superiore.
Frontier-Theorie – nicht nur für Amerika
    Der Meister, der aus der Grenze eine ganze Gesellschaft erklärt, ist Frederick Jackson Turner. 10 Er ist weit mehr als der Autor einer provozierenden These. Man versteht im Nachhinein wohl, warum für viele Europäer die amerikanische Raumerfahrung so wichtig geworden ist. Hier war man Augenzeuge einer Gesellschaftsbildung in nuce . Hier konnte man mit blankem Auge verfolgen, gleichsam im Zeitraffer, wie eine Gesellschaft alle Entwicklungsstufen, die in Europa bereits im Dunkel der geschichtlichen Epochen verschwunden waren und durch mühsame Rekonstruktionsarbeit der Geschichtswissenschaft erst wieder zu Tage gefördert werden mussten, im Eiltempo, aber Stufe für Stufe sichtbar durchlief: die Verwandlung von Raum in Territorium und die Verwandlung von Territorium in einen mächtigen Staat. Ein Abenteuer im Raum, das eigentlich noch mehr ein Abenteuer der Zeit war. Die Territorialisierung einer Geschichts- und Gesellschaftserfahrung, die Konstruktion einer Gesellschaft coram publico machte die Faszination durch den »amerikanischen Raum« aus.
    Frederick Jackson Turner war sich der Bedingtheit, der »Historizität« seines Aussichtspunktes bewusst: Seine Betrachtung über die konstitutive Bedeutung der frontier für die Bildung der US -amerikanischen Gesellschaft war erst möglich in dem Augenblick, da die frontier und die Bewegung nach Westen selbst zu einem Ende gekommen waren – konkret: in dem Augenblick (1890), da der Leiter der amerikanischen Zensusbehörde konstatierte, dass es kein eigentliches Grenzgebiet mehr gebe. Turner hat mit seinem Essay einen Schlüssel zum Verständnis der amerikanischen Geschichte geliefert. Man kann daran erkennen, was Grenze – ob front, frontier, border, boundary – impliziert. Turner liest sie rückwärts, er dechiffriert sie, er entfaltet sie. Was im Gemeinverstand nur eine Linie ist, verwandelt er in eine Schnittfläche, an der er das amerikanische Epos entfaltet.
    In Turners Analyse werden die Elemente der Dynamik sichtbar – demographisch, verkehrsgeographisch, juristisch, sozial, institutionell, mentalitätsmäßig –, die Amerika geformt haben. »Die Vereinigten Staaten liegen wie eine weiße Seite in der Geschichte der Gesellschaft da.« Alle Stufen werden durchlaufen, alle Stufen haben ihr charakteristisches Personal, ihre typischen Wege. Während im Osten alles nur Transformation von ursprünglich europäisch-kolonialen Institutionen, Entfaltung schon vorhandener Formen ist, vollzieht sich im Westen die amerikanische Urerfahrung, in der das Neue und genuin Amerikanische entsteht. »Die gesellschaftliche Entwicklung Amerikas hat immer wieder aufs neue an der Grenze eingesetzt. Diese unentwegte Wiedergeburt, diese Fluidität des amerikanischen Lebens, die Expansion nach Westen mit ihren neuen Möglichkeiten, die ständige Berührung mit der Einfachheit einer primitiven Gesellschaft, formt die Kräfte, die den amerikanischen Charakter beherrschen. Der einzig angemessene Blickpunkt auf die Geschichte dieser Nation ist nicht die Atlantikküste, sondern der Große Westen … Die Grenze ist die Linie der schnellsten und effektivsten Amerikanisierung. Die Wildnis beherrscht den Siedler. Sie findet einen Europäer, was Kleidung, Fertigkeiten, Handwerk, Reisegewohnheit und Denkgewohnheiten

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