Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
angeht. Es holt ihn aus dem Eisenbahnwaggon und setzt ihn ins Birkenkanoe … Er muss die Bedingungen, die er vorfindet, hinnehmen oder zugrunde gehen, und so findet er den Weg auf die indianischen Lichtungen und folgt den Indianerpfaden. Schritt für Schritt verändert er die Wildnis, aber das Ergebnis ist nicht das alte Europa, nicht einfach die Entwicklung der germanischen Keime … Tatsache ist, dass etwas Neues entstanden ist, das amerikanisch ist.« 11 Die amerikanische frontier kann einen lehren, was auch für andere Grenzen und Grenzen überall zutrifft: dass sie nichts Statisches, sondern etwas Dynamisches sind, ein ziemlich guter Indikator für die Reichweite der dahinter verborgenen Energien.
Die Einfachheit der Großen Grenze
Nun, da der Eiserne Vorhang weggezogen ist, zeigt sich, was Europa ist: ein Kontinent, der ohne Grenzen nicht leben kann. Über die Demarkationslinie, die von der Ostsee bis zum Adriatischen Meer gezogen war, wächst Gras, aber die Differenz, die sie in den Köpfen der jetzt lebenden Generationen produziert hat, ist noch lange nicht getilgt. Die Mauer scheint ostwärts zu wandern: aus dem Berliner Stadtzentrum an die Oder und weiter an den Bug. Die Embleme der Teilung der Welt werden abmontiert, aber nur, um den Emblemen neu geteilter Welten Platz zu machen. Die Freude über den Sturz der Tyrannen und ihrer Befestigungen ist übergegangen in die Leidenschaft für die Errichtung neuer Grenzanlagen. Nun, da die Zeitschranke, die Ost und West getrennt hatte, niedergerissen ist, können die unterschiedlichen Zeiten erst aufeinanderprallen. Alte Autoritäten sind gestürzt – also bedarf es anderer. Jeder darf sagen, was er will, also darf man auch zum Massaker aufrufen. Auf die große Einheit, die im Kampf gegen etwas zustande gekommen war, folgt nun die Vielheit der Rivalitäten, die sich einstellen, wenn jeder selbst zum Zuge kommen will. Überall gibt es viel zu tun, um die Länder aus dem Ruin herauszuführen, aber nichts scheint so vordringlich wie die Sicherung neuer Privilegien. Die neue Einheit geht einher mit der Verdammung der Vielheit und die Vereinigung der einen mit der Ausgrenzung der anderen, vorzugsweise der Fremden. Im Europa der Selbstbestimmung grassiert die Feind- und Fremderklärung. Die Entdeckung des Eigenen ist ohne die Verdammung des Anderen offenbar nicht zu haben. Die Toleranz, die man so lange gepredigt hat, soll nun nur noch für einen selber gelten. Von Menschenrechten spricht man, weil sie schon wieder in Gefahr sind. Wir sind Augenzeugen nicht des Verschwindens der Grenze, sondern ihrer Metamorphose. Das Europa, das entsteht, ist nicht das grenzenlose, sondern eines, das lernt, mit seinen Grenzen zu leben – oder auch nicht.
Der Eiserne Vorhang war so einfach, wie der Zustand, den er fixierte, elementar war. Das geteilte Europa war übersichtlich. Nachkriegseuropa ruhte im System der auf Gegenseitigkeit beruhenden Vernichtungsdrohung. Seine Stabilität hing am interkontinentalen Verbund der Raketensilos in Utah und Krasnojarsk und den Gipfelkonferenzen von Wien und Genf. Nicht die geringste Bewegung war denkbar, ohne dass sie eine Spur auf den Radarschirmen der unterirdischen Zentralen von Omaha und Moskau hinterlassen hätte. Über Touristen wurden Akten geführt, auch wenn sie sich nur für harmlose Sehenswürdigkeiten interessierten. Die einzigen Subversiven jener Zeit waren die Geheimdienstleute und später die Dissidenten. Nie zuvor ist so viel Intelligenz und Kraft in wechselseitige Feindbeobachtung und Belagerung investiert worden. Die Ökonomien der mächtigsten Länder der Erde haben für die Aufrechterhaltung der Balance gearbeitet, die fähigsten Köpfe der Welt haben sich in der Befestigung des Status quo verausgabt. Kriegsgefahr drohte immer dann, wenn es zur leichtesten Verschiebung dieser Balance kam. Aber die menschliche Intelligenz war dem riskanten Spiel gewachsen: Der tödliche Schlag blieb aus. Zeit, die Europa brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen, war gewonnen: Die Arbeiter von Stettin und Danzig, die Bürgerrechtler von Prag, die kritischen Intellektuellen aus Budapest haben die Chance im Windschatten des armierten Status quo genutzt. Sie standen bereit, als mit Waffen allein nichts mehr auszurichten war. Die Demobilisierung konnte beginnen.
Zur wechselseitigen Belagerung hatten Disziplin und Präzision gehört. Das Management des Ausnahmezustandes beruhte auf der Einhaltung von Regeln des Entweder/Oder. Die Grenze, die
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