Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Solche unsichtbaren Grenzen können zu wirklichen Grenzen werden, Zonen und Kampfgebiete des innerstädtischen Bürgerkriegs. Grenzen können sogar durch Heime und Behausungen verlaufen, durch die innersten Bezirke des privaten Lebens, wie nicht nur der orientalische Serail zeigt. Überhaupt ist die Grenze zwischen öffentlich und privat eine der delikatesten, subtilsten und zugleich massivsten Grenzen: An ihren Verschiebungen kann man die Intaktheit oder Erosion ganzer Kulturen ablesen.
Es ist daher fast unausweichlich, dass die Grenze selber zwischen die theoretischen und ideologischen Fronten geriet. Die am meisten geläufige Fassung ist der Streit zwischen den Anhängern der These von den »natürlichen Grenzen« und den Anhängern der These, dass es sich bei Grenzen »zuerst um eine soziale, dann um eine räumliche Tatsache« handle. Die klassischen Kontrahenten in dieser Affäre sind Friedrich Ratzel einerseits und Georg Simmel andererseits. 8 Dabei ging es um mehr als nur einen Streit zwischen den Disziplinen – der Geographie und der Soziologie. Man hat in Ratzels Naturalismus und Naturalisierung etwas Reaktionäres und Immobiles ausgemacht, während Simmels soziologischer Raumbegriff für eine moderne, dynamische Auffassung stand, ja mehr noch: Ratzels Anthropogeographie wurde in die Nähe eines biologischen Naturalismus der späteren Nazis gerückt, während Simmels Soziologie des Raumes als ein Zug seines Judentums und seiner angeblichen Ortlosigkeit charakterisiert wurde. Die Ideologisierung der Grenzfrage als »natürliche Grenze« bei Ratzel und als »soziologische Tatsache« bei Simmel und ihre Stilisierung zur Konfrontation von »alldeutschem Raumgefühl« und »jüdischer Ortlosigkeit« waren ein Indiz für die Spannungslage der Zeit und selbst erklärungs- und auflösungsbedürftig.
Aus der deterministischen wie konstruktivistischen Falle hilft nur eine Betrachtung, die es unterlässt, das Entsprechungsverhältnis nach der einen oder anderen Seite einseitig aufzulösen. Es wäre ganz unsinnig zu leugnen, dass natürliche Bedingungen – Flussverläufe, Küsten, Bergmassive – eine Rolle bei der Entwicklung geschichtlicher Abläufe und Formationen spielen; und ebenso unsinnig wäre es, Grenzen und Grenzverläufe als etwas von Ewigkeit her Gegebenes und Übergeschichtliches anzusehen. Alle Grenzen haben ihre Genese, die Zeit ihrer Wirkung und Geltung und ihre Verfallszeit. Grenzen werden »gemacht«, aber unter bestimmten Voraussetzungen. Es gibt dauerhaftere und weniger dauerhafte, stabilere und weniger stabile, elastischere und weniger elastische Grenzen. Wenn man sagt, dass alle Grenzen sich gebildet haben, sagt man auch, dass Grenzen historisch sind. Das ist natürlich eine beunruhigende, beängstigende Aussicht: die Verflüssigung all dessen, was fest ist und was einem Gemeinwesen einen festen Bezugsrahmen, eine Ordnung gibt. Die Verflüssigung von Grenzen ist beängstigend wie alles Relativistisch-Relativierende. Es lebt sich komfortabler, wenn die Dinge feststehen und Grenzen ewig sind. Historisierung von Grenzen – das könnte sein: Gebrauchsanweisung und Legitimation für Revisionismus und Irredentismus; das könnte sein: Aufkündigung von stillschweigend anerkannten und legitimen Grenzen, die Unruhe, Chaos und Bürgerkrieg heraufbeschwört; das könnte sein: Infragestellung von stillschweigend funktionierenden Routinen und Regeln. Grenzen sind Überlebensbedingungen geordneten menschlichen Lebens, und Grenzüberschreitungen sind, bevor sie zu einem Modewort wurden, etwas höchst Gefährliches und Riskantes.
Europäische Geschichte als Grenzgeschichte
Im Zeitraffer betrachtet, ist die ganze europäische Geschichte eine ununterbrochene Geschichte der Macht- und Grenzverschiebungen, der Aufkündigung von lange respektierten Abgrenzungslinien, eines nie zum Stillstand kommenden Prozesses bald friedlicher, bald gewalttätiger Revision. Geschichtsschreibung ist über weite Strecken Rekonstruktion dieser Entwicklungs- und Revisionsbewegungen. Historiographie arbeitet sich speziell an den Grenzen entlang. Sie ist spezialisiert auf Grenzverschiebungen. Sie nimmt sie als die exaktesten Indikatoren für Dynamik, für Vorstöße und Rückzüge. Die Grenze ist der privilegierte Ort für eine raum-zeitlich fundierte Geschichtsschreibung. Hier misst man die Stärke der Impulse, die Durchschlagskraft von Vorstößen, die Nachhaltigkeit von Innovationen oder auch deren Versanden. Hier zeigt sich, was
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