Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
unbedingt nach Übersee. Nachdem man New York schon gesehen hat, kann man sich endlich Prag vornehmen. Man ist dort jetzt nicht mehr ausschließlich als Tourist unterwegs, sondern aus Arbeits- und Geschäftsgründen. Das steigert die Ansprüche an ungehinderte und praktische Kommunikation. Die Grenzüberschreitung hat pragmatische Gründe, nicht gutgemeinte: Es gibt etwas zu tun. Man lernt sich kennen, unabsichtlich, einfach so – beim Einkaufen, Studieren, im Urlaub, auf der Arbeitssuche. Eine exotische Zone, über die böse und sympathische Vorurteile geherrscht haben, löst sich auf, und es bilden sich neue Urteile und Vorurteile – wiederum sympathische und böse.
Es entstehen neue Wirtschaftsräume. Man merkt es an der Entfaltung und Beschleunigung des innereuropäischen Austausches, an den LKW -Kolonnen aus Polen, Skandinavien, Südosteuropa, die auf dem Berliner Ring aufeinandertreffen. Am Kursbuch der Deutschen Bundesbahn lässt sich ablesen, wie die Passagierströme die Richtung geändert haben. Neue Industrieregionen gewinnen Kontur – die Vorboten sind die schwarzen Limousinen der Unterhändler und Manager, die auf den Autobahnen zwischen Pilsen und Wolfsburg, zwischen Wien und Prag, zwischen München und Dresden, Hamburg und Stettin unterwegs sind. Grenzräume werden wieder zu Achsen intensivierten Menschen- und Güterverkehrs. Das feinste Barometer für die Ausbildung des neuen Raumes ist wahrscheinlich die Warenzirkulation, die millionenfache Vermittlung von Allerweltsgegenständen, die Bewegung der Händler zwischen Sankt Petersburg und Berlin, zwischen Istanbul und Odessa, zwischen Posen und Ulan Bator, zwischen Sinkiang und Kasachstan. Die alten Routen – die Bernsteinstraße, die Seidenstraße – werden wieder in Betrieb genommen. Die Staus an der Grenze bei Brest und Grodno zeigen an, dass das Straßen- und Schienensystem dem gesteigerten Bedürfnis nach Austausch längst nicht mehr genügt. Man muss sich etwas Neues einfallen lassen.
Nach dem Fall der Großen Grenze und der Verausgabung der Kräfte, die zu ihrer Aufrechterhaltung nötig waren, scheint Europa erschöpft. Seine Teile scheinen in eine Ausgangslage vor Jalta, vielleicht sogar vor Trianon zurückzufallen. Der ganze Nachkriegszustand, an den Europa sich gewöhnt zu haben schien wie an einen Naturzustand, schien mit einem Mal künstlich und hinfällig. Block-Europa zerfiel in einen Archipel. Regionen drifteten wieder auseinander. Es gab im Europa, das die Mauer überwunden hatte, wieder geschlossene Städte, geteilte Städte, Städte im Belagerungszustand, offene Städte. Die Teilung der Welt verlief, so schien es, nun wieder im Spannungsfeld von Rom und Byzanz. Für die einen stand das Abendland wieder einmal auf dem Spiel, für andere galt als ausgemacht, dass Europa nicht weiter reiche als der Bug. Jeder besteht auf seinem einzig wahren Europa. So grenzt man nach und nach aus, was erst das Ganze macht. Die Großräume sind dahin und mit ihnen die Bewegungsfreiheit. Eine neue Provinzialität greift um sich. Die Bewegungsströme verdichten sich, aber sie brechen auch ab. Die Ostseestrände bei Riga und Reval sind verwaist, die wenigen Touristen aus dem Westen ersetzen die Touristenmassen nicht, die einst aus dem Sowjetreich gekommen waren. Die Krim ist, seit sie ukrainisch geworden ist, von den Gästen der Sanatorien und den Institutionen, die nun im Ausland liegen oder aufgelöst sind, getrennt. Auf der Promenade von Suchumi detonieren Granaten. Aserbaidschanische und armenische Intellektuelle, die in Moskau eine gemeinsame Sprache gesprochen hatten, überbieten sich in wechselseitigen Exkommunikationen. Der Wirtschaftsraum des alten Comecon hat sich aufgelöst: Die Sowjetunion, die einmal Eisen, Öl, Gas geliefert hat, gibt es so nicht mehr, und geliefert wird nur noch zu Weltmarktpreisen. Die Kraftwerke in Vilnius und Tallinn hören zu arbeiten auf. Die Ökonomien Ostmitteleuropas, die auf den westeuropäischen Markt wollen, haben kaum eine Chance. So entsteht ein weites Zwischenreich, übersät von Bankrotten, Krisen, Arbeitslosigkeit, Verzweiflung. In den Strom der Händlertouristen mischt sich der Flüchtlingsstrom, auf den europäischen Flughäfen und Bahnhöfen tauchen inmitten der neuen Reisenden neue Vertriebene auf.
Die Emblematik der geschlossenen Welt des Ostblocks existiert nur noch als Nachlassenschaft, als Ruine. Die Embleme sind national, wo sie vorher internationalistisch blockübergreifend waren; individuell
Weitere Kostenlose Bücher