Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
und privat, wo sie vorher Kollektivsubjekte repräsentierten; identifizierbar, wo sie vorher anonym gewesen sind. Kurz: »Das System«, »der Ostblock« existiert nicht mehr. Dort fand man sich zurecht, wenn man sich mit dem System zurechtfand. Jetzt muss man sich in den verschiedenen Ländern, in den verschiedenen gesellschaftlichen Welten zurechtfinden, mit verschiedenen Sprachen, verschiedenen Kulturen. Es gibt noch einen anderen Osten als den Ostblock, und es gibt noch ein Europa, das sich nicht deckt mit dem Wunschbild, das die Europäer sich von sich selber machen. Die Welt beginnt jetzt dort, wo sie früher schon zu Ende war, die Geschichte beginnt noch einmal, wo sie schon zu Ende gekommen schien. Hinter dem »System«, das wir zu kennen meinten, liegt das Neuland, das es erst noch zu entdecken gilt.
Metamorphose der Grenze
Die Grenze verschwand nicht, sie kehrte nur wieder in anderer Form. Sie ist so vielfältig geworden wie die neuen Verhältnisse. Sie ist unsichtbar geworden und lebt in der Erinnerung fort, in Gesten und Gewohnheiten. Sie ist stellenweise zur natürlichen Grenze geworden, die von Sprachen und Bergzügen markiert wird. Aber auch umgekehrt: Grenzen werden gezogen, wo es vorher keine gab. Menschen, die sich an die ungehemmte Bewegung im grenzenlosen Reich gewöhnt hatten, müssen sich nun auf Grenzen, Kontrollen, Übergänge und die damit verbundenen Schikanen einstellen. Grenzen gehen nun durch Familien und Generationen, die bisher schwierig, aber doch in Frieden miteinander gelebt hatten. Die Große Grenze durchläuft alle nur denkbaren Stadien der Verwandlung. Sie wird abgebaut, sie hält niemanden mehr auf, nur den, der nicht das Geld hat, sie zu überschreiten, oder den, dem die Papiere verweigert worden sind. Sie bietet keine Hindernisse für all jene, die auf ihrer langen Flucht weit kompliziertere Hindernisse zu überwinden gelernt haben. Das Verschwinden der Großen Grenze gibt den Blick frei auf eine Kluft, die nachhaltiger ist als das martialische Bauwerk mit Wachtürmen und Stacheldraht. Europa, das dabei war, den Todesstreifen zu eliminieren, wird von neuen Todeszonen und Schützengräben aufgerissen. Überall treten Prediger angeblich natürlicher Grenzen auf. An uralten Straßen und Verbindungslinien tauchen moderne Wegelagerer und Banditen, mit Maschinengewehren bewaffnete Rambos auf, Herren der neuen Landnahme und Grenzziehung. Es gehört nicht viel dazu, um im neuen Europa Geopolitik zu treiben. Eine Knarre macht einen in einer weitgehend zivil gewordenen Welt zum Herrn über Leben und Tod. Überall werden die Zeichen der neuen Staatlichkeit aufgezogen oder ausgewechselt. Oft scheint es, als mache die Grenze schon den Staat und als sei die Ausgrenzung der Fremden die erste Bedingung dafür, sich als »Eigenes« zu fühlen. Es muss sich um eine schwache Selbstbestimmung handeln, wenn sie von der Ausgrenzung der anderen abhängt.
Kultur der Übergänge. Mit der Grenze leben können
Grenzen sind die Außenhaut von Staaten, ihre Kontakt- und Reibungsfläche. Sie verraten uns, wohin die Reise geht, auch wenn wir in der Landeshauptstadt noch nicht angekommen sind. Sie sind wie die Staatswesen, die sie nötig haben. Die Stabilität der Grenzanlagen steht in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem inneren Gleichgewicht und in direktem Verhältnis zum im Inneren herrschenden Druck. Die Monumentalität der Befestigungsanlagen besagt nur, dass das, was sie schützen sollen, hinfällig ist. Ihre Hoheitszeichen sind Drohgebärden oder Verheißungen – je nachdem und je nach Bewegungsrichtung. Diktaturen erkennt man von weitem – an ihren Pforten. Sie verbarrikadieren das Tor, sie verstellen den Durchblick mit Milchglas und Sichtblenden. Sie lassen die Autos, die sich auf den Grenzübergang zubewegen, Slalom fahren. Reisende werden in Kabinen und Verschläge aus Resopal geleitet. Dort wird der Leib von fremden Händen nach Druckwerken abgetastet. Der Gedanke, dass jederzeit etwas passieren könnte, wenn man sich nicht richtig verhält, wird auch dem Sorglosesten implantiert – für die Zeit des Aufenthalts wenigstens. Die Jovialität der Grenzbeamten ist zu jovial, um wahr zu sein. Der rasche Wechsel im Mienenspiel bedeutet, dass sie ganz andere Saiten aufziehen können. Der Grenzgänger aus der anderen Welt ist das einzige Objekt, an dem der subalterne Diener der Macht seine Macht demonstrieren kann. Der technische Fortschritt auch der zurückgebliebensten Diktaturen zeigt sich zuerst an
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