Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
der Grenze, im Übergang von der handgeschriebenen Kartei zum Computer. Die Grenzöffnung schreckt ab: Wer hindurchwill, passiert einen Lichtkegel, in dem er geblendet und wie ein Insekt von allen Seiten zu sehen ist; er bewegt sich vorsichtig, denn er könnte ins Niemandsland geraten, in dem Gefahren lauern; er unterdrückt seinen spontanen Protest gegen die Prozeduren der Entwürdigung, da er ankommen möchte. Wie sich all die Eingangspforten der einstigen Hemisphäre doch alle glichen! Mit ihrem weißen Licht, mit der Neugier, mit der die Reisenden erwartet wurden, mit dem Geruch aus Lysol und Hausbrand, mit den vielen Schalterfenstern, hinter denen kein Gesicht, sondern eine Maske Platz genommen hatte, und den vielen Formularen, die auszufüllen und zu unterzeichnen waren, bevor man eingelassen wurde!
All das mutet von heute aus gesehen an wie eine lang vergessene Epoche. Bodyscanning hat die Leibesvisitation abgelöst. Surveillance, Intelligence, biometrische Kontrollen sind an die Stelle der altmodischen Prozeduren getreten. Die Kontrolle beginnt jetzt lange vor Reiseantritt und Grenzüberschreitung – in den Datenbanken der Fluggesellschaften und den Regeln der Einwanderungsbüros. Neue Klassen von Reisenden bilden sich, je nachdem, über welchen Pass einer verfügt und welchem Rechtsraum einer angehört. Flughäfen sind zu großen Sortieranlagen geworden, durch die Tag für Tag meist störungsfrei Millionen von Passagieren geschleust werden – ein Wunder an Disziplin und Routine.
Und doch ist das Andere zur Grenze geworden, die abschreckt, nicht die Grenzenlosigkeit, sondern die Grenze, die nicht mehr als ein Territorium bezeichnet, einen Anfang und ein Ende, die Markierung eines Übergangs. Nicht der kosmopolitische Traum, der immer einer der wenigen ist, ist die Alternative, sondern die Grenze, mit der sich leben lässt. Die Grenze macht den Raum, in dem man lebt. In grenzenlosen oder unbegrenzten Räumen lebt es sich schlecht. Die Grenze, auf die wir angewiesen sind, markiert nur den Übergang, den Umschlagspunkt, sie ist Gliederung des Unförmigen und Formlosen. Diese Grenze schreckt nicht ab, sondern ist ein Reiz, der jeder neuen Erfahrung, jedem Abschied und jeder Ankunft eigen ist. Grenzen sind Zeichen des Reichtums an Differenz. Grenze ist die Verpflichtung, für das eigene Haus verantwortlich zu sein, und die Möglichkeit, anderswo Gast sein zu können. Die Grenzüberschreitung ist im schrankenlosen Raum ein Unding. Ohne die Erfahrung der Übergänge wäre Europa ärmer. Der Reichtum Europas bemisst sich nach seinen Übergangslandschaften. Sie sind dort, wo man dazugehören kann, auch wenn man nicht die Sprache des Landes spricht. Sie bringen Kunstwerke zustande, die nur dort möglich sind, wo sich etwas mischt: Italiens Architektur und orthodoxe Gläubigkeit etwa. Dort gibt es eine Musik, die aus vielen Strömen zusammengewachsen ist: aus dem Mährischen, Magyarischen, Deutschen. Dort werden Gedanken gedacht, die nur an der porta orientis gedacht werden können. In den Grenzlandschaften stehen Synagogenbauten mit gotischem Kreuzgewölbe und weiße Pavillons vor märkischer Seenlandschaft. An der Grenze liegen die Landschaften, in denen das ungeübte Ohr in der eigenen Sprache schon das fremde, unverständliche Idiom vermutet und in denen die Biographie eines Menschen schon viele Staatsangehörigkeiten gehabt haben kann, bevor sie zu Ende geht.
Europa hat die Grenzen, die es verdient. Sie variieren von Grenzdiffusion bis zur Front. Welche obsiegen werden, wird sich zeigen. Aber das wird sich nicht an den Grenzen entscheiden, sondern in den Gemeinwesen, die die Grenzen haben werden, die sie für nötig halten. Wenn wir wissen wollen, wie die Grenzen im künftigen Europa aussehen, brauchen wir nur die Gesellschaften anzusehen, die sich durch sie voneinander abgrenzen. Von Gesellschaften, die mit sich selber nicht fertig werden, ist nicht zu erwarten, dass sie dem neuen, komplexeren Europa gewachsen sein werden.
(2006)
Die europäische Stadt am Ende?
Wenn es wahr ist, dass sich in der Stadt wie unter einem Brennglas alle Widersprüche einer Gesellschaft beobachten lassen, dann muss sie jetzt, im Augenblick der großen Krise, da die Unhaltbarkeit des alten Zustandes offenbar geworden ist, auch der Schauplatz der Zerreißprobe sein, die unsere Gesellschaft zu bestehen hat. Und wenn dies wahr ist, dann muss die Stadt auch der Schauplatz sein, auf dem sich die Koalitionen bilden, die aus der Krise
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