Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
herausführen – wenn sich denn welche finden werden.
Düstere Aussichten
Man braucht nur die Stellungnahmen und Thesen des Deutschen Städtetages zu lesen, um den Ernst der Lage zu verstehen: Dort ist die Rede davon, dass die kommunalen Dienste, Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser am Ende ihrer Leistungskraft sind, dass die Sparmaßnahmen den Spielraum für die Bewältigung von Konflikten immer mehr einengen. Dies alles wird in der disziplinierten Sprache gestandener Praktiker vorgebracht, nicht im panischen oder hysterischen Ton von Alarmisten. Überhaupt geht es nicht so sehr um die Horrorszenarien, etwa die Bilder aus Brixton South London aus der Mitte der 1990er Jahre, als ein Konflikt zwischen Jugendlichen und Polizeistreifen zu einer Explosion der Gewalt und zu tagelangen Straßenkämpfen eskalierte; damals schien es so, als käme damit ein Hauch von Rassenunruhen aus den Ghettos von Watts und Chicago nun auch nach Europa. Vor fünf Jahren waren es dann die Unruhen in den Banlieues von Paris, Lille, Marseille und anderen französischen Städten, die nicht nur den Straßenkampf in die Vorstädte brachten, sondern mit der Verhängung des Ausnahmezustandes, Ausgangssperren, Hunderten von in Brand gesteckten Autos, Verletzten und Toten die ganze Ohnmacht des staatlichen Systems demonstrierten. Ließen sich diese militanten Auseinandersetzungen nach ihrer Entladung wieder befrieden, so stand man den Prozessen, die sie hervorgebracht hatten, doch nach wie vor eher hilflos gegenüber. Es waren Prozesse von langer Dauer, in ihnen brach aus, was sich an Frustrationen, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit lange vorher akkumuliert hatte. Eine Art von molekularem Bürgerkrieg war zurück in den Städten, die sich dieser Form der brachialen Auseinandersetzung längst entwöhnt hatten. Angsteinflößend war vor allem die scheinbare Unaufhaltsamkeit der Vorgänge, gegen die ein Einzelner nichts auszurichten vermag: die Degradation der Schulen, vor denen Dealer kaum eingeschüchtert ihre Geschäfte abwickeln; die Angst der Lehrer, die ihren Beruf nicht ohne Zivilcourage und Mut ausüben können; die Eltern, die aus dem Stadtteil wegziehen, weil sie für ihre Kinder die Schule, die sie brauchen, nicht mehr finden; und die Familien, die dazu verurteilt sind, dazubleiben. Die Stadt ist, wie eine gewisse Folklore nicht müde wird zu betonen, bunt geworden, aber sie ist auch der Schauplatz einer neuen, bis dahin nicht gekannten neuen Polarisierung und Verfeindung. So werden Fragen des Glaubens zu Fragen auf Leben und Tod, der Bau einer Moschee teilt Nachbarschaften, eine Straßenkreuzung kann zu einem Ort werden, wo ein Journalist abgestochen wird wie ein Tier, und an Bushaltestellen kann es jungen Frauen passieren, dass sie bedroht werden, weil sie in der Stadt leben wollen wie alle: modern und ohne Unterwerfung unter den männlichen Clan, der einem archaischen Kodex von Ehre folgt. All das ist nicht Watts mit seinen Brandstiftungen und weithin sichtbaren aufsteigenden Rauchwolken; das ist nicht das sich kilometerweit erstreckende verbrannte Gelände zwischen Downtown und General Motors in Detroit; das sind nicht die No-go-Areas, die wir als Besucher der Bronx noch in den 1960er und 1970er Jahren kennengelernt haben, aber etwas ist im Gange, das beunruhigt, auch wenn es nicht knallt, noch nicht knallt. Etwas stimmt nicht, wenn sich alle überschüssige Phantasie in Sprayerorgien, an Fahrkartenautomaten und Telefonhäuschen austobt – zuweilen auch an Bürgern und Passanten, die spätabends noch in der U-Bahn unterwegs und naiv genug waren, anzunehmen, ihnen könnte nichts passieren, wenn sie einen Mitpassanten darauf hinweisen, er solle das Rauchen im Abteil bleiben lassen. Alles Anzeichen einer Verwilderung der Sitten, der Verwahrlosung, der Auflösung eines öffentlichen Raumes, in dem man bis dahin auch ohne Videoüberwachung sicher sein konnte, Anzeichen für etwas, von dem alle wissen, dass sich dagegen polizeilich-ordnungspolitisch allein gar nichts ausrichten lässt.
Die europäische Stadt am Ende ?
All dies scheint jenen recht zu geben, für die sich diese Beobachtungen mühelos in ihre Diagnose vom Ende der europäischen Stadt einfügen lassen. Die Stadt habe ihre ursprüngliche gesellschafts- und identitätsbildende Kraft längst verloren, das Leitbild sei auf andere Formationen übergegangen. Die Stadt als geschichtliche, als gebaute Stadt sei nur noch bloßes Gehäuse, das für die neuen Formen des Wirtschaftens
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