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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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nicht vom Krieg zerstört und im Wiederaufbau dauerhaft verunstaltet worden waren. Ich hatte hier gelernt, Städte als die eindrucksvollsten Dokumente, als Zeichensysteme, als Geschichtsorte zu dechiffrieren. Prag wurde für mich der Inbegriff für alles, was die europäische Stadt einmal, vor der Zerstörung des alten Europa, war: ein Wunder an Komplexität und kulturellem Reichtum. Das war – zweitens – das große Erlebnis einer Nahbeobachtung des Zerfalls einer städtischen Gesellschaft im Ausnahmezustand, also Westberlins, genauer Kreuzbergs zwischen den 1960er und 1980er Jahren, wo alle Nuancen der Erosion, der Verwahrlosung, der Verwilderung einer Stadt studiert werden konnten, aber auch die Kraft der Regeneration in einem Prozess, der einen verstehen ließ, dass Joseph Roth recht hatte, als er sagte: Menschen sterben, Städte leben. Die Lebenszyklen von Individuen und Städten sind nicht identisch oder kongruent, sie haben verschiedene Zeiten. Das war drittens das Abenteuer der Verwandlung der Städte, die sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit in den letzten 20 bis 30 Jahren in Zentral- und Osteuropa abgespielt hat. Und dies ist vielleicht der springende Punkt, der Ausgangspunkt meiner Beobachtungen und was ich zu der Suchbewegung beitragen könnte: die Schulung durch die Stadt, der physiognomische und phänomenologische Blick statt des auf einen Idealtyp oder auf ein Modell fixierten Blicks, der nicht allein durch die westdeutsch-westeuropäische Stadt definierte Erfahrungshorizont, sondern ein Erfahrungshorizont der Städte jenseits des Eisernen Vorhangs zu einem Zeitpunkt, in dem sich alles zu ändern begann. Von daher ergibt sich ein anderes Bild. 2
    Um das Resultat vorwegzunehmen: Meine Zuversicht, was die Zukunft der europäischen Stadt angeht, resultiert aus der eigentlich immer noch wie ein Wunder erscheinenden und nicht ganz erklärlichen Tatsache, dass sie nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts irgendwie die Kraft hatte, sich neu zu begründen, und dass sie im Augenblick des Endes einer Formation die Kraft besaß, die Reorganisation des gesellschaftlichen Lebensprozesses auf eine mehr oder minder zivil-humane Weise zu bewältigen. Sie bewies im Augenblick der größten Gefahr die Fähigkeit, einen nicht von vornherein ausgeschlossenen Krieg aller gegen alle zu vermeiden und das Leben in eine andere Form zu überführen. Aus all diesen Gründen spreche ich vom Comeback der Städte, von der Regeneration der Stadt in Europa und einer neuen Etappe der Urbanität in Europa. Unter europäischer Stadt verstehe ich nicht so sehr die idealtypische Stadt, die mit »Stadtluft macht frei« beginnt, sondern die Städte in Europa, die allesamt nicht nur ihre Fortschrittsgeschichten, sondern auch ihre Regressions- und Katastrophengeschichten haben, was in der idealisierenden Rede von der europäischen Stadt oft übersehen wird – so als wären sie immer nur passiv Betroffene, nicht aber auch expansiv-aggressive Akteure, Ausgangspunkt von fatalen Entwicklungen, gewesen. Die Städte im östlichen Europa waren in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten die privilegierten Orte für das Management des Übergangs, der Hauptschauplatz der kontrollierten Demontage und Neubegründung. Die Stadtlandschaft des mittleren und östlichen Europa war ein wahres Laboratorium der Regeneration der Städte und einer wiedergewonnenen Urbanität. Dass es in diesem Prozess auch zu Katastrophen gekommen ist, unterstreicht nur, was auf dem Spiel stand und wie riskant der Vorgang war. Denn Europa hat in den letzten 20 Jahren auch dem letzten großen Stadtmassaker des 20. Jahrhunderts beigewohnt, jenem Spätausläufer des Urbizids, den wir alle live miterlebt haben: als Sarajewo belagert und von Scharfschützen terrorisiert wurde und als Grosny von russischen Panzern dem Erdboden gleichgemacht wurde. Zum ersten Mal seit dem Ende des Weltkriegs bauten die Bewohner der Städte Tunnel und Labyrinthe unter der Erde, um überleben zu können. Das bedeutet, dass mein Beobachtungsfeld ein wenig verschoben ist und dass man aus diesem Blickwinkel auch zu anderen Wahrnehmungen und Urteilen kommen kann.
Georg Simmel und der Polenmarkt
    Es ist ein Glück, das einem nicht alle Tage und vermutlich nicht jeder Generation widerfährt: mitanzusehen, wie sich eine Epoche erledigt, wie etwas zu Ende kommt und etwas anderes anfängt, wie sich binnen kürzester Zeit etwas verdichtet, was unter gewöhnlichen Umständen Jahre braucht, das sich wie in

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