Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
einem Zeitraffer mit bloßem Augen beobachten lässt. Georg Simmel hätte, ich bin sicher, mit neu erwachtem Interesse, perplex von der Dichte und Wucht der Erscheinungen, noch einmal ausgeholt zu einer Zweitfassung seiner Studie »Die Großstädte und das Geistesleben«, Max Weber hätte sich energisch den Erscheinungen zugewandt, um seinen Idealtyp der europäischen Stadt zu überprüfen. Sie alle wären dank dieses privilegierten Beobachtungspunkts mitten in Europa und inmitten des Übergangs auf ihre Kosten gekommen: die Theorie von der Geburt der Stadt aus dem Geist des Marktplatzes, des Handels und der Waren- und Geldwirtschaft, die Theorie von der Wiedergeburt der Subjektivität, des Bourgeois und des Citoyen, die Theorie von der Genese der bürgerlichen Öffentlichkeit als einer entscheidenden Bedingung gesellschaftlichen Handelns. Sie alle hätten das Material gefunden für ihre Analysen, für die sinnliche Anschauung, ohne die der Begriff nur leer geblieben wäre: die Mode und das Outfit, das uns das Ende des Sozialismus ankündigte; die neue Architektur, die besagt, dass die Postmoderne auch dort angekommen ist; das Handy und das Internet, mit denen eine bis dahin flüsternde Gesellschaft zu plappern und zu chatten anfing. Kurzum: Die Jahre nach 1989 waren fast ein Schulbeispiel für die Wiedergeburt der europäischen Stadt im Staccato.
Es ist nicht einfach, den Vorgang, um den es hier geht, darstellerisch zu bewältigen. Vielleicht sollten wir, nicht stadtgläubig, aber unseren Blick durch die Lektüre Simmels, Max Webers und vielleicht auch Walter Benjamins geschärft, eine Position einnehmen, von der aus sich der Schauplatz übersehen lässt. Man könnte von hier aus das Ende der geschlossenen Gesellschaft und die Wiederverknüpfung mit der Welt draußen beobachten, die Inbesitznahme der Stadt durch die Bürger, die Umkodierung des öffentlichen Raumes, den Wechsel von einer monumentalistischen Architektur, die etwas mit Festung, Verbarrikadierung und Einschüchterungsrhetorik zu tun hat, zu einer Architektur ziviler Maßstäblichkeit, den Übergang von einem Regime der bürokratischen Redistribution mit all ihren Verzögerungen, Blockierungen zu einem neuen Regime, in dem Zeitgewinn, Tempo, Wettbewerb eine Rolle spielen, den Übergang von einer Zeit des systemischen Mangels und einer Kultur des Wartens und Zuteilens in eine Zeit, in der Angebot und Nachfrage miteinander verzahnt sind und wo der öffentliche Raum der Politpropaganda geräumt und von der Reklame in Besitz genommen worden ist.
Es gibt Orte, an denen sich innerhalb allerkürzester Zeit so etwas wie die Neuerfindung der Stadt in ihrer ganzen elementaren Wucht gezeigt hat. Von außen betrachtet und vielleicht retrospektiv handelt es sich um abgelegene, exotische, marginale Orte, in Wahrheit hätten sensible Beobachter dort zu Augenzeugen eines Vorganges werden können, den man als Verfertigung der Stadt in der Retorte bezeichnen kann. Solche Orte waren der Potsdamer Platz in Berlin, der Plac Defilad oder das Stadion in Warschau, das Luschniki-Stadion in Moskau oder der grandiose Basar »Siebter Kilometer« außerhalb Odessas.
Die Spuren dessen, was sich dort abgespielt hat, sind heute getilgt, und die Geschichte muss nun eruiert und rekonstruiert werden. Wo einmal im Frühjahr 1989, also vor dem Fall der Mauer, der Polenmarkt war, hinter der steil aufragenden Staatsbibliothek, in jenem wüsten Gelände entlang der Mauer, das nur von Kaninchen und Aussteigern besiedelt war, stehen heute die Türme von Sony und Mercedes, das neue Zentrum des wiedervereinigten Berlin. Erst war es nur ein verlassenes Gelände, dann war es über Nacht ein von Hunderttausenden aus der ganzen Stadt besuchter Basar, dann zeitweise die größte Baustelle Europas. Aus dem Unort entlang der Mauer wurde das neue Zentrum, aus dem Basar die Galerie. Rekultivierung eines städtischen Territoriums, das durch eine geschichtliche Katastrophe und eine lange Nachkriegszeit aus der Zeit herausgefallen war, Wiederbelebung einer ans Ende der Welt geratenen Stadtmitte, das Ende Westberlins als einer isolierten Insel, die Wiedergeburt Berlins aus dem Geist des polnischen Basars. Das hat man bei den Feiern 1989 etwas übersehen.
Der Plac Defilad, der Platz im Zentrum von Warschau, das von den Deutschen niedergebrannt worden war und das durch den monumentalen Kulturpalast Lew Rudnjews für immer besetzt schien, ist heute zum Zentrum aller Warschauer Stadtimagination geworden. Hier
Weitere Kostenlose Bücher