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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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und Zusammenlebens unbrauchbar, funktionslos geworden sei, ein Fossil, eine Kulisse, eine Attrappe, allenfalls noch gut genug, um Touristen aus Übersee, vor allem aus dem zahlungskräftigen Fernen Osten anzuziehen, oder als gute Adresse einer Weltfirma, die sich im Übrigen hinter der Fassade ihre eigenen hightech facilities installiert, passgenau und äußerlich wenigstens stilgerecht und denkmalschutzkompatibel. Die Stadt habe, in der postfordistischen Ära angekommen, ihre Stellung als industrieller Produktionsort eingebüßt, die schmutzigen Industrien seien über die Grenzen ausgelagert worden und mit ihnen die Arbeitsplätze. Damit sei auch der Hauptmotor, der bis dahin die in mehreren Wellen in die Stadt geschwemmten Immigranten erzogen, geschult, zu einer homogenen Masse gebildet habe, erlahmt und falle als die mächtigste Integrationsmaschine aus. Die Stadt, für die einmal der Markt konstitutiv und für die der Marktplatz der zentrale öffentliche Raum gewesen sei, sei mit den neuen Medien und der Kommunikationstechnologie in ein neues Stadium übergetreten. Die wichtigsten Funktionen – öffentlicher Raum, Handel, Finanzen – seien auf die durch die Stadt einst verbürgte Zentralität nicht mehr angewiesen. Die technologische und verkehrsmäßige Revolution habe der bisher im Abseits liegenden Peripherie eine ganz neue Bedeutung verschafft, ausgedrückt in einer unaufhaltsam ins Umland vordringenden Besiedlung, die die klassische Unterscheidung von Stadt und Land hinfällig gemacht habe. Die Auflösung der gebauten Stadt im urban sprawl spiegele gleichsam die Erosion der in den Städten konstituierten Gesellschaft – unwiederbringlich. 1
    All das sind empirisch gut begründete Argumente dafür, dass die europäische Stadt als Modell und Lebensform, ja als die Geburtsstätte bürgerlicher Gesellschaft und überhaupt europäischer Identität an ihr Ende gekommen sei. Es ist sinnlos, gegen diese handfesten Beobachtungen anzurennen. Sie sind unwiderleglich. Man handelt sich ganz schnell den Vorwurf ein, an einem Bild festzuhalten, das zwar sympathisch, aber eben längst obsolet geworden sei. An einem Idealtyp von europäischer Stadt festzuhalten in Zeiten, da diese Stadt sich empirisch aufzulösen beginnt, könnte fast als Dogmatismus erscheinen. Vielleicht setzt man sich sogar dem Vorwurf der Nostalgie und einer freilich verständlichen und nicht unsympathischen Sentimentalität aus.
    Die Reise geht wirklich in ein Niemandsland, wie es im Obertitel dieser Veranstaltungsserie heißt. Niemandsland heißt so viel wie: Die bekannten Koordinaten und Markierungen haben ihre selbstverständliche Geltung verloren. Man stößt sich ab von den schon bekannten Gestaden, und man bewegt sich auf Wegen fort, von denen man noch nicht weiß, ob sie einen aus der Krise herausführen. Es ist fast tollkühn, sich auf eine Frage einzulassen, auf die niemand eine Antwort weiß, nicht wissen kann. Aber wir können Elemente beisteuern, die diese Suchbewegung nicht von vornherein zum Scheitern verurteilen.
Städte lesen
    Für eine solche Suchbewegung ist jeder auf seine Weise disponiert. Der Vertreter des Städtetages hat eine andere Sicht als der streetfighting man am Oranienplatz, der alljährlich zu einem festen Zeitpunkt – Ordnung muss sein – auf seine emotionalen Kosten kommen muss und meint, ein bisschen Krieg spielen zu dürfen. Die Perspektive des Städtetourismus-Touristen, der übers Wochenende etwas von der Welt sehen will, ist eine andere als die des Bürgermeisters von Neukölln, der alle Zivilcourage zusammennehmen muss, um durchzusetzen, was er für richtig hält: dass auch an den Schulen seines Bezirks die üblichen Standards der deutschen Sprache gelten. So gibt es unendlich viele Perspektiven, und alle zusammengenommen, die von oben und die von unten, die der Einheimischen und derer, die von draußen kommen, ergeben wohl erst ein angemessenes Bild. Was meine Perspektive betrifft, so hat sie sich in mehreren Erfahrungsschüben gebildet. Dies sei gesagt, nicht um Sie mit biographischen Details zu behelligen, sondern weil es wissenschaftstheoretisch gesprochen darum geht, offenzulegen, was der historische Ort der je spezifischen Beobachtungen und Erkenntnisse ist. Kurz gesagt handelt es sich um folgende:
    Das Erlebnis der großen Stadt Prag, dieser wahren Metropole Mitteleuropas in den bewegten 1960er Jahren, eine Art Urerlebnis für jemanden, der aus einem Land kam, in dem es nur wenig große Städte gab, die

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