Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
waren, neu aufgestellt und andere Denkmäler demontiert und in abgelegenen Parks entsorgt, zum Nutzen und zur Belehrung künftiger Generationen von Schülern, die erfahren sollten, was der Kommunismus einmal war. Eine Welle der Demontage, manchmal auch mit bilderstürmischem Eifer, ging durch die Städte des östlichen Europa, von dem berüchtigte Gestalten wie Dserschinski ebenso erfasst werden konnten wie harmlose oder auch berühmte Dichter, die postum für die Verbrechen Stalins verantwortlich gemacht wurden. Diese Umbenennungen und Umkodierungen waren wichtig, weil mit jedem Namen eine Geschichte verbunden war, aber es handelte sich weitgehend doch um symbolische Demonstrationen, die auf die wirkliche Umgestaltung des städtischen Raumes kaum Einfluss hatten. Aber gerade diese Aufgabe stellte sich immer dringender, denn es ging in der Wende ja nicht so sehr darum, vergangenheitssüchtig eine Sehnsucht nach einer heilen Vergangenheit zu stillen, sondern umgekehrt: Die Städte sollten fit für die Zukunft und jedenfalls gegenwartstüchtig gemacht werden. Und da ging es nicht nur um Umbenennungen und die Versetzung von Denkmälern, sondern um weitaus Gravierenderes: um die Gewährleistung der Funktionstüchtigkeit der Stadt, um Modernisierung, um die Schaffung einer Infrastruktur auf der Höhe des 21. Jahrhunderts. Die Stadt oder genauer: die dafür zuständigen Experten und das Publikum, das sich wieder in Fragen der eigenen Stadt einzumischen begann, begannen darüber zu sprechen und zu phantasieren, wie sich die Stadt für ihre nächste Lebensetappe rüsten könnte. Die Stadt, die bis dahin in streng kontrollierter Isolation gelebt hatte, musste sich darauf vorbereiten, dass die Tore nun geöffnet waren, also brauchte man Flughäfen und facilities , um die Verbindungen mit der Welt wieder zu knüpfen. Die Stadt, die bis dahin im Wesentlichen Delegationen und organisierten Gruppentourismus empfangen hatte, hatte einen enormen Bedarf an Hotels, die internationalen Standards genügten. Die Stadt, in der bis dahin zwar die Staats- und Parteibürokratie angesiedelt war, hatte einen phantastischen Mangel an modernem Büroraum. Die Stadt, in der der Besitz eines Autos das Privileg relativ weniger Bürger war, musste sich in allem Ernst einem Problem zuwenden, das bis dahin gar nicht existiert hatte: dem Bau von Autobahnen, Ringstraßen, Garagen, Tankstellen und Raststätten. Und nicht zu vergessen die niemals gelöste Wohnungsfrage. Der städtische Raum wurde umverteilt und umdefiniert, eine innerstädtische Migration kam in Gang, verbunden mit Entmischung und neuer Segregation, mit Massenquartieren und gated communities , Depravierung und Luxusappartements in den gentrifizierten Altbauvierteln. Wer in dem neuen Spiel mitspielen wollte, musste ins Zentrum streben, ob als Filiale eines ausländischen Konzerns oder als Vertretung eines der neu entstandenen oligarchischen Konglomerate. Die Pflicht zur Präsenz und angemessenen Repräsentation trieb die Unternehmen und die Immobilienfirmen in die städtischen Zentren und steigerte den Druck auf die vorhandene Fläche ins schier Unermessliche. Es gab jetzt Unternehmer und Auftraggeber neben dem Staat und der Kommune; das Monopol des angeblichen Gemeineigentums war gebrochen, die Selbstdarstellung und der Wettbewerb entfalteten ihre Dynamik. Der Reichtum eines ganzen Landes, der sich in der Stadt und in der Hauptstadt zusammenzog, drückte auf die Stadt, deren Fläche nicht genug hergab an Geschossen, Nutzfläche, Büros und Läden. Die ursprüngliche Akkumulation von Kapital ist ein verwirrender, undurchsichtiger, gewalttätiger Vorgang. Es müssen Kräfte von ungeheurer Wucht am Werk sein, wenn sie es vermögen, binnen kürzester Zeit ganze Städte zu verwandeln, im Jahresrhythmus Türme in den Himmel zu schicken, mit Clustern von Wolkenkratzern ganz neue Zentren zu schaffen, wenn sie für ihre Paradiese im neuen Moskauer Westen Kopien von Versailles und Beverly Hills bauen und binnen kürzester Zeit die Stadt mit den neuesten Kommunikationstechnologien ins nächste Jahrhundert katapultieren können. 4
Der Boom signalisierte, dass für die aus der Weltzeit herausgefallenen Städte die Zeit wieder in Gang gekommen war. Entwickler und Architekten aus der ganzen Welt waren angetreten, um ihr Repertoire vorzuführen und zu erproben. Überall sollte mit den neuen Bauten klargemacht werden, dass auch eine neue Epoche begonnen hatte und dass die Geschichte weiterging – so
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