Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Viertel, Straßenzug für Straßenzug, Meter für Meter zerstört, in Schutt und Asche gelegt, pulverisiert worden, d.h. die geschichtliche Kontinuität, die sich in der Baumasse von Städten manifestiert, ist unterbrochen, abgebrochen worden. Sie hörten rein äußerlich zu existieren auf – für einen historischen Moment jedenfalls. Menschen lebten dort nur noch in Erdhöhlen. Solche Städte waren Warschau, Minsk, Witebsk, Pinsk, Stalingrad, die Zentren von Königsberg, Dresden, Berlin, Würzburg oder Rotterdam. In vielen Fällen ging die physische Zerstörung so weit, dass man sich überlegt hat, ob sie überhaupt je wieder besiedelt werden sollten.
Darüber hinaus gibt es aber Städte in dieser Region, die äußerlich unversehrt erscheinen: Lemberg, Czernowitz, Łódź, Rzeszów, Riga, Vilnius, Kaunas, Grodno, Novi Sad und viele andere. Aber dort stehen nur noch die Mauern, während die Menschen, die dort einst gewohnt hatten, über Nacht verschwunden sind – im Ghetto, in Lagern, im Gas, in Massengräbern. Städte sind ja eine Art von »Gesamtkunstwerk«. An diesem Gesamtkunstwerk, das das Resultat der Arbeit vieler Generationen war, haben im 20. Jahrhundert, im Jahrhundert der Extreme, der Konkurrenz und der Kollaboration der Totalitarismen Kräfte von ungeheurer Destruktivität gearbeitet. Die Städte, wie sie uns die späten Vielvölkerimperien vor 1914 hinterlassen hatten, sind unter dem Angriff des Nationalsozialismus und des Stalinismus zusammengebrochen oder wenigstens schwer deformiert worden. Der ethnische und soziale Säuberungswahn hat die Städte von allem zu »reinigen« versucht, was in eine als homogen und hermetisch vorgestellte Welt nicht passte. Wo es früher multiethnische Räume gab, waren es am Ende ethnisch homogenisierte; wo wir zuerst sozial differenzierte Gebilde hatten, war am Ende kein Platz mehr für die Komplexität der Menschenwerkstatt Stadt. Dieser Prozess dauerte grosso modo drei Jahrzehnte, 1914–1945. Das östliche und mittlere Europa ist als radikal bereinigtes Terrain, gleichsam als tabula rasa schon in die Zeit vor dem Kalten Krieg eingetreten. Ohne den Dreißigjährigen Krieg, ohne dieses Ineinander von Weltkrieg und Bürgerkriegen, ist die folgende Nachkriegszeit gar nicht verständlich. Ethnische und soziale Säuberung und die Zerstörung der Grundlagen der Zivilgesellschaft, die ihrerseits wiederum den Kern aller Urbanität bildet, bedingen sich wechselseitig. Die Festigung der totalen Macht wäre ohne die Dezimierung der zivilen Kräfte und die Aushöhlung der urbanen Substanz nicht möglich gewesen.
Und noch eine notwendige Bemerkung: In der Geschichte der Stadtwerdung im östlichen Europa gibt es einen Aspekt, der unbedingt mitbedacht werden muss – er steht für die Ambivalenz der Urbanisierung und für das Verständnis der spezifischen Qualität der neuen Urbanität heute. Das östliche Europa war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Schauplatz eines unerhörten, ja exzessiven Urbanisierungsprozesses, vollzogen im Übergang von traditionaler Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft. Die Art, in der dies geschah – in Sprüngen, schockhaft, unter größten Spannungen –, hat zu großen Verwerfungen geführt, die ebenfalls bis heute spürbar geblieben sind: Massenenteignungen der Bauernschaft, Deportationen, Flucht und Abwanderung aus den Dörfern in die Städte, Massenmigrationen, eine ganze Gesellschaft auf Wanderschaft, mit allem, was dazugehört: aufgelassene und verwüstete Dörfer, ausgeblutete Landschaften, aus den Nähten platzende Städte, aus dem Boden gestampfte Industriesiedlungen, ein Minimum an Infrastruktur, Erdlöcher und Baracken, Aufteilung des übernommenen bürgerlichen Wohnraums und dessen Verwandlung in Kommunalwohnungen, hygienische Verhältnisse, wie wir sie heute aus den Schütterzonen der Dritten Welt kennen, Verdoppelung und Verdreifachung der städtischen Bevölkerungen in den alten Zentren, Verschwinden und Auflösung der alten Kernbevölkerung mit allen damit verbundenen kulturellen Folgen – Traditionsverlust, Ausdünnung der kulturellen Standards, Zusammenbruch eingespielter zivilisatorischer Routinen, kulturelle Nivellierung. Moshe Lewin hat von der »Flugsandgesellschaft« der Land-Stadt-Wanderung und von der »ruralization« der Städte gesprochen. David Hoffmann hat seine Studie zu Moskau in den 1930er Jahren »Peasant Metropolis« genannt. 6 Die Ruralisierung der Städte – zeitverschoben in den einzelnen
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