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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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wird gebaut, hier wuchs Downtown Warsaw in die Höhe, dessen Silhouette man von weit draußen schon sehen kann. Stalins Kulturpalast hat Konkurrenz bekommen und wird irgendwann nur noch ein exotisch-plastischer Bau unter und neben anderen Wolkenkratzern sein, die Warschaus Eintritt ins 21. Jahrhundert symbolisieren. Dabei war der Platz vor 20 Jahren erst leer, dann schwarz von Menschen, die aus dem Platz der Paraden den größten Marktplatz Europas hatten werden lassen. Auch hier derselbe Vorgang: die Geburt der Stadt aus der Aktivität derer, die, von der Distribution und Fürsorge des Staates im Stich gelassen, sich um sich selber kümmern mussten. Wie später auch im Stadion auf der anderen Seite der Weichsel in Praga. Das Stadion aus den 1950er Jahren, ein Zeichen des neuen wiederaufgebauten Warschau, wandelte sich Anfang der 1990er Jahre, seiner sportlichen Funktionen entkleidet, zum kommerziellen Zentrum ganz Ostmitteleuropas. Morgen für Morgen kommen die Händler zum Jahrmarkt Europa: aus Litauen, Russland, Rumänien, Serbien, aus der Türkei. Hunderttausende Tag für Tag, das Unternehmen mit dem landesweit größten Umsatz. Was hier geschieht: die Wiederverknüpfung der gerissenen Handelsverbindungen, die Begegnung von Hunderttausenden aus allen Gegenden Europas, nicht aus Gründen der Völkerfreundschaft, sondern aus Gründen des Lebenserwerbs und des Austausches, von dem jeder der Beteiligten etwas haben soll; ein Basar, auf dem alle Sprachen gesprochen werden und die ganze Diversität der transkontinentalen Warenwelt sich entfaltet – von Werkzeugkästen aus weißrussischen Fabriken, die Bankrott gegangen sind, über Bernstein von der Kurischen Nehrung, der kilogrammweise angeboten wird, bis zu türkischen Lederwaren vom Basar in Istanbul und chinesischen Thermoskannen aus Tientsin. Heute sind nur noch Reste des Basars vorhanden: Die Phantasien der Konsumwelt werden jetzt in den neuen Einkaufszentren ausgelebt, die Reisenden von einst haben es nicht mehr nötig, per Bus auf Überlandfahrten zu gehen, nur die Vietnamesen, die größte ethnische Minderheit Warschaus, halten noch aus mit ihrem kleinen buddhistischen Tempel. Stadtbildung in nuce: Warentausch, Geldgeschäfte, Zelt- und Containerstädte, nach Handwerken gegliedert, Sicherheitsdienste und Bethäuser für die hier zusammenkommenden Konfessionen, nicht zu vergessen das logistische System, das den Bahnhof von Warszawa-Wschodnja zum Zentrum der östlichen Welt hat werden lassen. Dass das Stadion auch eine Ereignisgeschichte hat – hier verbrannte sich Ryszard Siwiec 1968 aus Protest gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag, hier feierte der polnische Papst 1983 seine Messe, hier gab Stevie Wonder 1989 sein Konzert –, unterstreicht nur, dass hier mehr als ein bloßer Handelsplatz war, ein Ort des Martyriums so wie das Kolosseum, der Bau, der zeigt, was Rom, die Ewige Stadt, einmal war. 3
    Etwas Ähnliches hat sich in Moskau abgespielt, am Stadion draußen in Luschniki, aber auch im Stadtzentrum auf dem Dserschinski-Platz, von dem 1991 das Denkmal des Tscheka-Gründers entfernt wurde, und vis-à-vis, wo der Stein von Solowki als Mahnmal für die Opfer Stalins und des NKWD plaziert ist, dessen Nachfolge-Organisation bis heute in dem großen Gebäude residiert. Heute soll an der Stelle, wo in den frühen 1990er Jahren der Schwarzmarkt sich ausbreitete, in dem Kaufhaus »Welt des Kindes« aus den 1930er Jahren ein gigantisches Einkaufszentrum errichtet werden. Aber wir könnten auch den Roten Platz selbst anführen, auf dem in den 1990ern das Undenkbare geschah: ein internationales Festival der Zirkuskunst mit Zelten und Zirkusmusik gleich gegenüber dem Mausoleum mit dem einbalsamierten Lenin, ein Livekonzert von Pavarotti und den Rolling Stones – nichts weniger als die Profanierung eines quasi-sakralen Platzes, die Inbesitznahme eines Platzes der Machterhöhung und der Menschenverkleinerung, der einschüchternden Waffenparaden durch die Bürger der Stadt – vorübergehend wenigstens.
Wiederauftritt der Stadt
    Es hieß, die Stadt habe ihre Funktion als Ort der politischen Öffentlichkeit eingebüßt. Aber in Wahrheit kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Städte die eminenten Schauplätze der Wende von 1989 waren. Wann immer wir von historischen Momenten in jenem Jahr sprechen, dann meinen wir Orte, Städte. Wir haben dann die Bilder von den Demonstrationen auf dem Leipziger Ring vor Augen, die Kundgebung am 4. November auf

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