Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
persönlichen Beziehungen, auf die man bisher angewiesen war, wurde abgelöst oder doch ergänzt durch Beziehungen, die auf dem ökonomischen Kalkül basierten. Alles wurde dadurch verbindlicher, berechenbarer, aber auch härter. Die neue Zeit öffnete Wege und Möglichkeiten, und am besten wurden sie genutzt von jenen, die sich schon kundig gemacht hatten, die sich auskannten und die die nötige Rücksichtslosigkeit für die neue Zeit aufbrachten. So ist das Leben schneller, aber auch unendlich viel härter und brutaler geworden. Soziale Hierarchien werden umgebaut, Statuskriterien ändern sich. Nun geht es nicht mehr um den Rang in der Nomenklatura oder den Nimbus eines Dichters, sondern um Zugang zu Aktiengesellschaften, die Villa auf der Rubljowka, den Lamborghini. Es wird nicht mehr getrunken, sondern gejoggt und methodisch im Gym an der körperlichen Fitness gearbeitet. Ein neuer life-style ist kreiert, eine Mischung aus protestantischer Askese und dem Rückzug auf die Datscha, auf der die Uhren immer noch anders ticken. Man kann in zwei, vielleicht sogar noch mehr Zeitaltern zugleich leben, im Hochgeschwindigkeits- und Hightech-Korridor oder wenige Kilometer außerhalb der Stadt, wo die Infrastrukturen, die im 20. Jahrhundert aufgebaut worden sind, aufgehört haben zu funktionieren. Die Bewohner der Städte hatten sich von heute auf morgen auf neue Lebensverhältnisse einzustellen, von der Ökonomie der Verteilung auf die Ökonomie des Marktes, von der allseitigen Fürsorge des Staates auf den Kollaps der staatlichen Zuständigkeiten. Sie hatten, nachdem ihr Beruf und ihre Spezialisierung sinnlos geworden und entwertet waren, noch einmal neu anzufangen, vielleicht sogar noch einmal zur Schule zu gehen. Die Balance einer Stadt ist aber die Balance, die ihre Bewohner halten können, die in überraschend neuen und fast ausweglosen Situationen sich neu aufzustellen haben und ihre Lebensplanung über den Haufen werfen müssen. Eigentlich ist das die Stunde der gesellschaftlichen Hysterie, der Panik und Panikmache, die Stunde der Demagogen und des Rufes nach dem kurzen Prozess, der alle Probleme auf einmal löst. Es ist – fast wider Erwarten – dazu nicht gekommen, und es muss mit der Grundverfassung und dem Training der Bewohner der Städte zu tun haben. Geduld zu üben – nicht nur weil man dies in Zeiten der Knappheit im Sozialismus gelernt hatte, sondern auch weil es eine Einsicht gab, dass sich im Hauruck-Verfahren nichts zum Besseren wenden lässt. Desillusioniertheit – also jenes Wissen um die Grenzen des Möglichen, dass keine Wunder zu erwarten sind, schon gar nicht von einem »System«, das am Ende ist. Desillusionierung nicht als Verlust von etwas, sondern als Zugewinn an Aufklärung, die Gelassenheit möglich macht. Gewiss ist auch Angst im Spiel, dass Konflikte außer Kontrolle geraten könnten und dass eine defensive Fahrweise in gesellschaftlichen Dingen vielleicht schwieriger, dafür aber erfolgversprechend ist. Und man darf die Augenblicke nicht unterschätzen, die den Bürgern der Städte Zuversicht gaben, dass sie alles überstehen würden und alles zu einem guten Ende führen würde. Dies sind die Zeichen der Veränderung, jenes unabdingbare Gefühl, ja jene sinnliche Gewissheit, die durch den Augenschein, durch den Wandel in der Umgebung, durch das Leben selbst erzeugt werden. Dazu gehören die lebendigen Beweise: Moskau versinkt nicht in Schmutz und Chaos, sondern die Menschen sind in der Lage, ihre Stadt wieder in Ordnung und Form zu bringen. Dazu gehört die Kraft der Warschauer Wolkenkratzer, die dieser schwer getroffenen Stadt zeigten, dass die Geschichte der Stadt nicht mit der Zerstörung durch die Nazis und nicht mit dem Wiederaufbau nach 1945 beendet war, sondern weitergeht, ins 21. Jahrhundert und darüber hinaus. Dazu gehörte das Gefühl, nun nicht mehr in einer geschlossenen Welt leben zu müssen und ausschwärmen zu können in die weite Welt – einfach so. Und Millionen haben diese Chance genutzt.
»Auferstanden aus Ruinen«, Menschenwerkstätten
Man könnte über dieser Wiederkehr des Städtischen nach der Wende vergessen, dass es noch ein anderes Wunder gab. Viele Städte des östlichen Europa – darunter die größten und schönsten – waren ja zum Schauplatz des Krieges, d.h. der überlegten und systematischen Zerstörung zu Land, aus der Luft und vom Wasser her geworden. Städte sind zu Festungen erklärt und als solche behandelt worden, sie sind Viertel für
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