Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
dem Berliner Alexanderplatz, den Wenzelsplatz in Prag, auf dem sich Hunderttausende zwischen Graben und Nationalmuseum einfanden, wir denken zurück an die Orte des Kräftemessens, die besetzten Werften von Danzig und Stettin, aber auch an den Saal in Warschau, in dem der runde Tisch aufgestellt worden war. Die Straßen und Plätze der großen Städte waren zur Bühne entscheidender Auseinandersetzungen geworden. Hier trat das alte Personal ab, und das neue übte sich in seine neue Rolle ein. Hier wurde ein anderer Ton geprobt. Man rieb sich die Augen und fragte sich, wie es hatte kommen können, dass noch vor kurzem eine These vom Ende der Geschichte hatte Furore machen können, und wie weggeblasen erschienen die Thesen, dass der konkrete Raum für die Artikulation des politischen Willens keine Rolle mehr spielen sollte, weil sich alles Geschehen in die Sphäre des Medialen und Virtuellen verlagert habe. Nun gab es plötzlich wieder reelle Akteure und eine Bühne für den spektakulären Dekorationswechsel – sehr zur Überraschung der Beobachter, die meinten, die Welt von heute sei über derlei Aktionsformen und altmodisches Pathos längst hinaus. Nun war der fast klassische Raum der politischen Öffentlichkeit wieder da.
Dies war, wie sich leicht zeigen lässt, kein Zufall. Die Städte waren der Schauplatz dieser Ereignisse, weil sich hier die kritische Masse herausbilden konnte, die dann auch die Wende herbeigeführt hat. Man muss in die Zeit davor zurückgehen, um diesen Bildungsprozess der kritischen Masse aufzuspüren, und wieder werden wir darauf gestoßen, dass, wie groß die Rolle Einzelner oder der Intelligenzija als ganzer war, es sich doch wiederum und vor allem um ein städtisches Phänomen handelte. Es waren die Zirkel, Seminare und Treffen in den Klubs und Kulturpalästen, die Salons und Freundeskreise, in denen das Milieu herangewachsen war, das dann zum Kern einer Gegenöffentlichkeit und Gegengesellschaft wurde. Es waren diese Freundestreffen am Rande der Gesellschaft, die dissidentischen Netzwerke mit ihren Selbstverlagen und ganz eigenen Ritualen, in denen das freie Denken eingeübt und die Melodien gefunden wurden, die, den Verhältnissen einmal vorgesungen, diese auch zum Tanzen brachten. In der Stadt fanden sich die schwachen Kräfte, in den Städten konnten sie sich bewegen und in Verbindung treten zur Welt draußen – wenn nötig mit der Voice of America oder dem Korrespondenten der »Washington Post« – und sich auch zu den ersten Manifestationen verabreden. Die Stadt bot Schutz, war der Rückzugsraum und das Feld, in dem man sich besser auskannte als die Macht und ihre spezialisierten Geheimdienste. Die dissidentischen Zirkel waren gemischte Gesellschaften, Miniwelten, gaben eine Vorstellung von der Spannbreite der Gesellschaft, und die Themen, die in den Moskauer Küchen verhandelt wurden, umfassten schon das ganze Spektrum der Themen, die dann, im Augenblick der Perestroika und Glasnost, in aller Öffentlichkeit verhandelt wurden.
Neues Selbstbewusstsein, die Stadt als Subjekt
Diese Jahre des Aufbruchs waren erfüllt von einem wahren Eifer der Selbstentdeckung. Man ging den weißen Flecken nach und sah die Stadt als Schauplatz tragischer Schicksale nun mit neuen Augen. Spurensucher machten sich auf den Weg, die vorrevolutionäre Literatur wurde neu verlegt. Die Topographien und Karten der Städte wurden neu gezeichnet, Stadtführer und Beschreibungen aller Art hatten Hochkonjunktur. Man kann diese Jahre als Zeit der Aneignung der Stadt interpretieren, in der die Stadt aus einer »staatlichen Veranstaltung« zu einem eigenen und selbstbewussten Subjekt wurde. Ich werde nie den Augenblick vergessen, als die Leningrader in den Tagen des Putsches im August 1991 zu Hunderttausenden über den Newski-Prospekt zum Schlossplatz zogen, um ihre Stadt, die nun wieder Sankt Petersburg heißen sollte, zu verteidigen. Ich werde nie den Augenblick vergessen, als die Moskauer in einem großen Demonstrationszug vom Weißen Haus zur Manege und zum Roten Platz zogen, um dort auch die Hauptstadt der nun souverän gewordenen Russländischen Föderation zu feiern. Es kam so etwas wie Stolz auf die eigene Stadt auf, Lokal- und Regionalpatriotismus, der sich auf die Vergangenheit, aber vor allem auf die Zukunft bezog.
Vom ersten Tag an wurde eine Überschreibung des vorgefundenen Stadttextes ins Auge gefasst, und so wurden Straßen um-, neu oder rückbenannt, Denkmäler, die in den Depots verschwunden
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