Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
entstanden die Signalbauten und Ikonen, an denen forthin die Modernität und Zukunftszugewandtheit der jeweiligen Städte festgemacht werden sollte. So stehen neben dem Stalinschen Kulturpalast nun auch Türme aus Stahl, Beton und Glas am Düna-Ufer in Riga, so erkennt man von weit her schon die neue City im weitgehend mittelalterlich gebliebenen Tallinn; so gibt es sogar ein Verwaltungsviertel in Vilnius, das mit der Silhouette des alten Wilna konkurriert. Moskau hat einen komplett neuen Business District errichtet mit einem Federation Tower und einem Tower of Russia, aber auch mit einer neu errichteten Christ-Erlöser-Kathedrale, deren Kuppel noch mehr als das Original die Skyline des neuen Moskau bestimmt. Aber wahrscheinlich zeigt sich der wahre Bauboom gar nicht zuerst in den Innenstadtbereichen, in den Abrissorgien und Neubauten, sondern draußen, im urban sprawl , wo der wahre Wohlstand des jeweiligen Landes noch deutlicher gemessen und ermessen werden kann als in den Luxushotels, Bars und Klubs der neuen Moskauer Oligarchien. Man wird die ersten beiden Jahrzehnte der postsozialistischen Städte für immer an der baulichen Prägung erkennen. Ein in die Jahre gekommener, schon resignativer Postmodernismus, der Durchmarsch aller internationalen Planungs- und Architekturbüros, der auch für die Entprovinzialisierung und Re-Internationalisierung der Städte des östlichen Europa steht, Norman Foster in Warschau und Moskau, Rem Koolhaas an der Ermitage in Sankt Petersburg; und nicht zuletzt wird man die Note, die der Auftraggeber, der Patriarch, der Pate, der mächtigste Mann der Stadt dem Stadtbild verpasst, auch in Zukunft bemerken – am eindeutigsten an Moskau, das nun für immer gezeichnet sein wird von der Ära seines Bürgermeisters Juri Luschkow, eine Mischung aus »breschnewistischer« Repräsentationsgebärde und Anleihen bei der neorussischen und neobyzantinischen Schule, ein wenig Kitsch von Tseretelli und ganz wenig von den neuen unabhängigen und weltläufigen jüngeren Architekten, die sich in der Baugeschichte des eigenen Landes auskennen. 5
Doch vielleicht sind die wichtigsten Änderungen gerade nicht die spektakulären Inszenierungen der Stadtkulisse, angeleitet von den Meistern, die auch den Strip von Las Vegas und die Place de la Concorde illuminierten, nicht das neue Meisternarrativ der Stadtlandschaft, sondern die molekularen Veränderungen, die mehr über Stadtwachstum und Urbanität aussagen. Von dem Tag an, an dem die ersten Kooperativen und privaten Geschäfte möglich wurden, wuchs eine neue Stadt empor. Ihre bevorzugte Gestalt war nicht das repräsentative Bankgebäude, sondern der Kiosk und umgebaute Container, nicht die Passage, sondern die Bude. Die neue Buden- und Kioskstadt kristallisierte sich an belebten Kreuzungspunkten der Stadt, an Bahnhöfen, Metroübergängen, stark frequentierten Plätzen und gab einen Vorgeschmack auf das, was geschieht, wenn die Weitläufigkeit der sozialistischen Stadt mit ihren Magistralen, Prospekten, fußgängerfeindlichen Distanzen und Wegen aufgefüllt wird von menschlicher Aktivität und Dienstleistung. Korallenriffen gleich wuchs diese improvisierte, transitorische, dann aber doch dauerhafte und bleibende Stadt. Die Welt der Basare und Buden zersetzte die Monotonie der Plattenbauviertel, auf den weitläufigen Magistralen gab es von nun an etwas zu sehen und zu kaufen, die Farbe der Stadt schlug um aus einem ermüdenden Grau in eine meist als asiatisch bezeichnete grelle Buntheit. Wo es bis dahin dunkel war, hatten die Geschäfte nun rund um die Uhr geöffnet. Dies alles waren Symptome einer Revitalisierung und Verdichtung, die anfangs von niemandem geplant war, die Stadt als Subjekt, das seine eigenen Wege ging.
Diese Verdichtung und Kristallisierung ist der deutlichste Hinweis auf Stadtwerdung und neue Urbanität, einen Prozess, der die einen stimuliert und mitreißt, die anderen hingegen erschreckt und abstößt. Fast alle Charakteristika, die von Simmel bis Elias und Park beobachtet worden sind, lassen sich – fast mit bloßem Augen – analysieren. Die Beschleunigung der Zeit: Zeit war nun nicht mehr unendlich, endlos, im Überfluss vorhanden wie bei jenen Gesprächen über Gott und die Welt in den Moskauer Küchen, Zeit war nun ein kostbares Gut geworden, knapp; es entwickelte sich eine neue Ökonomie der Zeit, der Termine und Verbindlichkeiten; das Ende der bleiernen Zeit in Gestalt der Monetarisierung hatte einen Preis. Das Netz der
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