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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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Ländern – ist eine der dramatischsten Urbanisierungserfahrungen, die je gemacht worden sind. Andererseits hat sich in der Bewältigung der Aufgabe – der Urbanisierung einer weitgehend ländlich-bäuerlichen Bevölkerung – die ungeheure Kraft der Stadt als einer Akkulturierungs- und Assimilierungsmaschine erneut bewiesen. Es wäre interessant, diese Integrationsleistung der europäischen Stadt im 20. Jahrhundert einmal zu thematisieren und in Beziehung zu setzen zum Integrationsdiskurs heute, der es mit Immigration im großen Maßstab zu tun hat, wenn auch einer in vielerlei Hinsicht – kulturell, sprachlich, religiös – ganz anderes gearteten.
    Dieser kleine historische Exkurs ist notwendig, wenn man die Dimension der heutigen Vorgänge in den Städten im östlichen Europa verstehen will. Die Ausführungen sollten bekräftigen, dass die europäische Stadt sich als fähig erwies, einem Prozess, der auch außer Kontrolle geraten konnte, eine Form zu geben. In ihr wurden die Kräfte generiert, die die kontrollierte Demontage und die sich selbst beschränkende Revolution zum Erfolg geführt haben; sie waren der Schauplatz und die Bühne und bekräftigen damit, dass die Stadt auch heute noch jenen Raum bildet, ohne den politische Öffentlichkeit nicht auskommt und der in absehbarer Zeit auch nicht ersetzt werden wird. Die europäische Stadt hat sich bewährt als Integrations- und Krisenbewältigungsmaschine – dies in einem Augenblick, wo ihr Ende, ihre Obsoletheit in aller Munde war.
Abwicklung Ost, Abwicklung West
    Vieles in den Städten des östlichen Europa sieht aus wie nachholende Modernisierung. Was in den westlichen Städten längst zum Problem geworden ist, wird hier immer noch als Ziel angepeilt. Statt Einschränkung des Individual- und Ausbau des öffentlichen Verkehrs eher stürmische Automobilisierung und Rückbau des öffentlichen Verkehrswesens. Statt Skepsis gegenüber der Errichtung neuer Einkaufspassagen an den Rändern der Stadt eher enthusiastisches Eintauchen in die Welt des Konsums; jedes Richtfest einer Mall wird zum Gesellschaftsereignis und zur Feier der Stadt. Während man hier eher schon mit einer bestimmten Reserve auf die Renommierprojekte und neuen städtischen Ikonen blickt, sind sie dort immer noch ein Medium zur Steigerung der Attraktivität. Während man dort einen Rückbau des Staates nicht genug loben kann, ist man hier über die Preisgabe des Sozialstaats als zivilisatorischer Errungenschaft entsetzt. Während es sich bei den Bevölkerungen in den Städten des östlichen Europa immer noch um sehr homogene Populationen handelt, sieht man von einem postimperialen Gebilde wie Moskau, das zugleich die größte europäische Stadt ist, einmal ab, wächst in den westlichen Städten die eingewanderte Bevölkerung oder die mit Einwanderungshintergrund. Während im Osten die nationalen Narrative und Mythen noch einmal ihre Plausibilität entfalten, scheint es in den westlichen Gesellschaften damit vorbei zu sein.
    Wenn man den Kennern der Materie glaubt, dann sieht die Zukunft unserer Städte düster aus. Die Bevölkerung altert, und damit steigen die Kosten für Pflege, Unterhalt und werden zur Last für die Jüngeren und die Folgegenerationen. Die industrielle Erwerbsarbeit, die bisher die Neuankömmlinge angezogen und ins gesellschaftliche Leben hineingerissen und integriert hat, hat ihre Bindekraft weitgehend verloren, und selbst aktiv gestimmten jungen Leuten fällt es zunehmend schwer, die Barrieren auf dem Weg der Qualifikation zu überwinden. So entstehen soziale und kulturelle Universa, die nicht mehr zugänglich sind, die dank der neuen Möglichkeiten der Kommunikationstechnologie ganz unter sich leben können, jedenfalls solange sie durch die sozialstaatlichen Strukturen von der Mehrheitsgesellschaft unterhalten und getragen werden. Die ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt ist gewachsen und nimmt weiter zu, aber es ist nicht klar, ob die Gesellschaft dieser wachsenden Vielfalt auch gewachsen sein wird. Das ganze System steht längst unter Überforderungsstress, und allen ist irgendwie klar, dass es »so nicht weitergehen kann«, dass »wir über unsere Verhältnisse leben«. Auch hier gibt es einen Hauch von Stagnation, Agonie und Perestroika. Alle wissen, dass sich etwas Fundamentales ändern muss, alle Parteien wissen, dass man aus den Spannungen, Stimmungen, Unzufriedenheiten und Unklarheiten etwas machen kann – etwas, das sehr leicht ist: das Ressentiment zu

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