Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
bedienen und damit zu zündeln, oder das Schwierigere: die Bürger, die ja keine Idioten sind und um den unhaltbar gewordenen Zustand wissen, zu fordern, als Bürger, als Bewohner ihrer Stadt, ihres Viertels, ihrer Straße. Die Materien, die mit der Gesundheitsreform, mit der Altenpflege, mit Hartz IV , Schulentwicklung verbunden sind, sind hochkompliziert. Mir scheint, dass fast nur noch Spezialisten und Berufspolitiker sich in diesen Angelegenheiten und Maßnahmenkatalogen auskennen. Was mir aber ganz gewiss erscheint und wozu jeder Bürger etwas sagen kann: Es wird ohne einen Rückbau unserer hochentwickelten Systeme nicht gehen; es wird ohne die Reduzierung unserer Ansprüche und ohne eine andere Qualität von bürgerschaftlichem Engagement nicht möglich sein, unser immer noch hohes Lebensniveau zu halten. Es wird ohne einen neuen Gesellschaftsvertrag, wie ihn Dieter Hoffmann-Axthelm in seinem Buch »Die dritte Stadt« skizziert hat, nicht abgehen. 7
Die Abwicklung des alten Zustandes in Europa hat nun auch den westlichen Teil erreicht. Die Abwicklung Ost kam in Gang nicht wegen, jedenfalls nicht allein wegen der großen Idee der Freiheit, sondern weil das System am Ende seiner Leistungskraft war. Aber es gab eine Aussicht, dass es besser werden würde, für manche sollte das schon morgen oder übermorgen sein. Für entwickelte, reiche, in einer langen Friedens- und Arbeitszeit herangereifte Gesellschaften hingegen ist es ein ganz anderes, unendlich viel schwierigeres Unterfangen, etwas aufzugeben. Hier steht viel mehr auf dem Spiel. Um ein Beispiel zu nennen: Als in den Anfängen der Wirren des nachsowjetischen Russland die elementare Versorgung zusammenbrach, das Geld buchstäblich verschwand und die Leute zur Naturalwirtschaft und Selbstversorgung übergingen, war klar, dass Russland nicht in eine Hungersnot hineinsteuern würde, die viele Ausländer schon sahen. Ein großer Teil der Versorgung hing eben nicht an den staatlichen und kommunalen Strukturen, sondern an der Eigeninitiative und Selbstversorgung – seien es der Anbau auf der Datscha oder die immer noch vorhandenen Beziehungen zum Dorf. Die Renaturalisierung schützte das Land vor der drohenden Katastrophe. Diese Möglichkeit besteht in Deutschland oder sonstwo im westlichen Europa nicht – hier gibt es den Rückgriff auf das Stück Land oder die Beziehung zum Dorf so nicht mehr. Unsere Systeme sind, weil arbeitsteilig und hochspezialisiert, empfindlicher und verwundbarer.
Es ist meines Erachtens sinnlos, sich Wege und Rezepte auszudenken. Der erste Lernort ist der Ernstfall. Niemand hätte sich Anfang der 1990er Jahre vorstellen können, dass Hunderttausende, eher noch Millionen ihr Auskommen in den vom Kollaps zerrütteten Ökonomien Osteuropas im Basarhandel, im Shoppingtourismus finden würden, dass gewöhnliche Leute mit gewöhnlichen Berufen sich auf den Weg machen würden, um vorübergehend wenigstens ihre Familien ernähren zu können. Es war das Verdienst ebendieser Leute, dass das Land nicht auseinanderfiel, dass die Versorgung aufrechterhalten wurde, und das bedeutet, dass sie die wahren Garanten für das Gelingen des friedlichen Übergangs gewesen sind. Ich sage das wiederum nicht als Beispiel dafür, wie wir es machen könnten oder sollten. Aber ich führe das an als Beispiel dafür, dass es in ausweglos scheinenden Situationen offenbar doch Auswege gibt – jenseits der eingespielten Erwartungen und Routinen. Eigentlich wäre es die Aufgabe einer als Frühwarnsystem fungierenden Sozialwissenschaft, Initiativen dieser Art, Leute auf der Suche nach einem Ausweg, Kristallisationen von Ideen und neuen Handlungsoptionen ausfindig zu machen. Wir haben uns in den 1970er und 1980er Jahren damit befasst, die dissidentischen Freundeskreise, ihre Netzwerke, ihre Wirksamkeit zu studieren; vielleicht hätten wir sorgfältiger die Anfänge der Marktwirtschaft und der Selbsthilfe im Abseits, an der Peripherie, im Untergrund studieren sollen. Erstaunlich für mich ist, dass die Formen der Selbstorganisation im großen Maßstab – und die Märkte, die Reisetätigkeit, die kommerzielle und Arbeitsmigration erfassen immerhin Millionen von Menschen – nie Gegenstand der Analyse geworden sind. Jetzt gehören sie der Vergangenheit an und sind zum Gegenstand für die Forschung von Historikern geworden.
Ich bin sicher, dass es Formen des Rückbaus, der Ökonomisierung und Rationalisierung gibt. Das kann die Entscheidung sein, nicht ins Umland
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