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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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auszuweichen und so Fläche und Zeit und Energie einzusparen – aus ökonomischen, nicht ideologischen Motiven. Das kann die Entscheidung für den öffentlichen Verkehr und die Absage an den ungeheuren Luxus der im Stau verschwendeten Lebenszeit sein. Das kann die ehrenamtliche Tätigkeit in einer Schule für türkische oder libanesische Jugendliche sein oder in einem Hospiz und in der Altenpflege. Ich habe den Eindruck, dass nicht nur die Angst vor einem Auseinanderdriften der Gesellschaft in geschlossene Milieus, Parallelgesellschaften und dogmatische Religionsgemeinschaften wächst, sondern auch der Wunsch und das Bedürfnis, dieser Polarisierung und Flucht in die Segregation zu entgehen.
    Ich habe bisher immer eher skeptisch auf die Festivalisierung des städtischen Lebens gesehen, auf all die City Marathons, Christopher Street Days, Karnevale der Kulturen, Feste der Nationen im Kiez, Langen Nächte der Wissenschaft, der Museen und Kulturen. Manchmal konnte man den Eindruck haben, als bestehe die Stadt überhaupt nur noch aus Unterhaltung, die um jeden Preis in Gang gehalten werden muss nach der Devise Panem et circenses . Aber viele dieser Veranstaltungen ziehen Massen von Leuten an, die sich wohlfühlen. Das bedeutet, dass das Stadtfest, die Love Parade und das Public Viewing während der Fußballweltmeisterschaft offensichtlich ein elementares Bedürfnis nach Geselligkeit befriedigen, dass die Inszenierung der öffentlichen Plätze offensichtlich nicht nur einer kommerziellen Strategie folgt, sondern auch einem elementaren Bedürfnis nach Kommunikation, Bewegung, Gemeinschaft. Es muss etwas besagen, wenn wichtige Themen der Gestaltung des öffentlichen Raumes – die Wiedererrichtung eines Bürgerhauses, die Rekonstruktion eines Marktplatzes, der im Krieg zerstört wurde, der Neubau eines Schlosses in der Mitte der Hauptstadt – das Interesse so vieler Bürger finden.
    All dies deutet darauf hin, dass der konkrete Ort, die Stadt, der Platz nach wie vor unverzichtbar für Öffentlichkeit und politisches Leben sind, auch wenn sie vorübergehend diese Funktion verloren zu haben scheinen; dass die Identifikation mit und über den Ort sogar an Bedeutung gewinnt, dass die Bindung an den Ort leichter und nachhaltiger ist als die an die Nation – und so war es auch schon vor der Durchsetzung des modernen Nationalstaates in den alten Imperien; dass die Städte wichtige geschichtliche Narrative der Gemeinschaft sind, in die sich die Neuankömmlinge einzugliedern gedenken, nicht einfach tote, passive Plätze, auf denen man sich niederlässt. Orte, Städte haben ihre Fähigkeit, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu stiften, im Zeitalter der Globalisierung keineswegs verloren – eher umgekehrt: Je durchgreifender die Globalisierungsbewegung ist, desto wichtiger wird die Ausbildung einer Beziehung zum Ort. Sie bietet Halt, wo alles in Bewegung ist. Ich kann mir derzeit keinen Organismus in Europa vorstellen, der in einer Zeit des Drucks die Arbeit der Vermittlung besser leisten könnte als die Städte. Sie sind die Orte, an denen die Konflikte, die noch auf uns zukommen werden, verhandelt werden, und sie sind die wichtigste Bedingung für die Entwicklung einer Kultur, in der Rückbau nicht als Niederlage, die Entschleunigung nicht als Verlust, sondern als Gewinn empfunden werden können. Dichte ist ein Grundzug städtischer Siedlung. Sie produziert die Komplexität, die die Menschen seit jeher fasziniert und anzieht, die sich zugleich nur schwer ertragen und aushalten lässt. Wir werden sehen, ob und wie die europäische Stadt mit ihrer wiedergewonnenen Komplexität fertigwerden wird.
    (2011)

STIMMÜBUNGEN IN D
    M an muss sich darauf einstellen, dass die jetzt jungen Leute mit 1989 nicht viel mehr verbinden als ein Datum. Es ist nicht ihre Erfahrung, nicht ihr Personal, das uns, die dabei gewesen sind – als Aktivisten oder als Zaungäste –, selbstverständlich und vertraut ist. Es ist der kostbare Augenblick, in dem sich ein Leben, ein Zyklus schließt, und man sich immer seiner erinnern wird, aber er ist gegenstandslos für andere, nur noch stumme Voraussetzung für eine Bühne und eine Vorstellung, in der nun ganz andere Akteure ihren Auftritt haben. Man muss sich lösen von den alten Bildern, um den Blick frei zu haben. Nur Geistesgegenwart zählt, nicht die historische Analogie. Eine gute Dosis Vergessen, Auf-Distanz-Gehen zum allzu Vertrauten ist angesagt, wenn wir realitätstüchtig werden oder bleiben wollen.

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