Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
1989 ist vorbei, ein historisches Datum, eine Erinnerung. Wer allzu lange den Blick auf das Datum gerichtet hält, wird blind gegenüber der Gegenwart. Was man daraus lernen kann? Nichts oder nicht viel. Gelingen hängt mehr am geschichtlichen kairós , über den niemand verfügt. Er stellt sich ein – oder auch nicht.
Aber gerade wenn man Abschied nehmen will, weil die neue Zeit unsere ganze Aufmerksamkeit, Intelligenz und Tatkraft beansprucht, ist es notwendig, sich noch einmal den gewundenen, windungsreichen und mühseligen Prozess zu vergegenwärtigen, der schließlich in das Ende der Nachkriegszeit einmündete. Auch die nach dem Krieg Geborenen waren noch ganz und gar im Schatten des Krieges und im Wissen um die deutschen Verbrechen aufgewachsen. Wie sollte man dafür eine Sprache finden, und wie sollte man in einem Land, das nun für lange Zeit zwei rivalisierenden Hemisphären zugeschlagen war, eine eigene Sprache finden, die sich der Sprachregelung des Kalten Krieges entzog? Wie sollte man von einem Verlust der Deutschen sprechen, wo es zuallererst darum gehen musste, die Verluste, die die Deutschen anderen zugefügt hatten, zur Sprache zu bringen. Vielleicht sind die unsichtbaren Folgen, die Langzeitfolgen gerade die dauerhaftesten. Wie es aussieht, sind wir mit den Stimmübungen noch nicht am Ende angelangt, sie wechseln allenfalls die Tonart, vielleicht von D nach E.
Brauchen wir ein Denkmal
der deutschen Einheit?
Berlin ist voll von Leuten, die der Stadt auf die Spur kommen wollen. Sie sind unterwegs zu Fuß, in Karten und Stadtführer vertieft. Sie erschließen sich die weitläufige Stadt mit dem Fahrrad. Sie inspizieren die Stadt von oben, aus den Fenstern der S-Bahn und der Hochbahn. Es fällt schon schwer, sich zu orientieren, wo die Mauer verlaufen ist. Jeder absolviert, was er kann. Es gibt die Kurzprogramme und ausführlichere Touren, aber jeder kann sich auch selbständig machen und sich durch die Stadt schlagen. Sie ist immer noch weit, noch immer gibt es Brachen, die Stadt ist noch immer nicht in den S-Bahn-Ring von einst hineingewachsen. In Berlin ist nicht nur der Himmel weit, sondern auch der Boden unter den Füßen heiß. Verbrannte Erde, wohin man tritt, auch wenn die Häuser, die noch Einschusslöcher vorzuweisen hatten, mittlerweile verschwunden sind. Neue S-Bahnhöfe, so renoviert, dass man denken könnte, sie seien nie beschädigt gewesen, aus Ziegeln, glasiert oder mit dem Aufdruck von Reliefstempeln. Es gibt abgestufte Programme, für die Anfänger und Einsteiger (vielleicht Brandenburger Tor, Reichstag, Potsdamer Platz, Unter den Linden, Kurfürstendamm, Hackescher Markt), für die schon mehr mit der Stadt Vertrauten (vielleicht Savignyplatz, Museumsinsel, Kreuzberg, Jüdisches Museum) und für jene, die sich bei jedem Besuch etwas Neues vorgenommen haben (vielleicht die Industriearchitektur in Oberschöneweide, den Jüdischen Friedhof in Weißensee, die Siedlungen der 1920er Jahre, die Stasizentrale in Hohenschönhausen). Das Menschengetümmel hat in der Stadt, die vor einem Jahrzehnt noch ziemlich leer aussah, enorm zugenommen. Es überschneiden sich die Routen der Fans der Pokalfinalisten und die der Anhänger des dark tourism , der Kenner, die eigens angereist sind, um die neue Hängung in der Gemäldegalerie zu begutachten, mit den Pulks, die in die Klubszene losziehen, sobald die Ryanair-Maschine gelandet ist.
Demnächst soll eine neue Destination auf dem Parcours der Berlin-Besucher hinzukommen: das nationale Denkmal der Freiheit und Einheit, das den Moment der Wiedervereinigung der Deutschen symbolisieren und für immer wachhalten soll. »Bürger in Bewegung« heißt das Denkmal auf der ehemaligen Schlossfreiheit, eine »soziale Plastik«, von den Bürgern begehbar und in Bewegung zu versetzen, eine Installation, die von den Kritikern des Wettbewerbs in bezeichnender Einmütigkeit und größter Treffsicherheit abwechselnd als »Salatschüssel der Einheit«, »Deutschlandwippe« oder »Neumann-Schaukel« bezeichnet wurde. Ein Denkmal, das schon jetzt, noch bevor der Volksmund wirklich zum Zug gekommen ist, seinen Namen weghat, wird mit Sicherheit gebaut und sicher auch zu einem großen event werden, wenn Einsicht oder höhere Gewalt das Vorhaben nicht doch noch zu Fall bringen.
Berlin ist nicht die einzige Stadt, die den historischen Augenblick fassen und in der Stadtlandschaft sichtbar machen möchte. Überall im mittleren und östlichen Europa sind die Städte
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