Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Orte des realen Geschehens ignoriert oder an den Rand des Geschehens gerückt werden. Man baut ein eindrucksvolles Stelenfeld als Holocaust-Memorial, aber man will es den Besuchern der Stadt nicht zumuten, den Ort der Wannseekonferenz, die Villa mit der Adresse Am Großen Wannsee 56–58, aufzusuchen, an dem die Ausrottung der europäischen Juden beschlossen worden ist. Das läuft auf eine Unterschätzung der Leute – Einheimische wie Touristen – hinaus, die sehr wohl wissen, dass authentische Orte etwas anderes sind als deren Simulation. Das empfinden sie, wenn sie auf den Hof des Bendlerblocks treten, wo die Aufständischen des 20. Juli erschossen worden sind. Das spüren sie, wenn sie das Gleis am S-Bahnhof Grunewald entlanggehen, von dem die Berliner Juden ins Gas transportiert worden sind. Und das nehmen sie zur Kenntnis, wenn sie auf dem Gehweg vor ihrem Haus lesen können, wohin die früheren jüdischen Bewohner verschwunden sind: in die Ghettos von Riga, Theresienstadt, Minsk. Das ist eine eher unauffällige Form, in der das Ungeheuerliche, in unsere normale Alltagswelt eingelagert, festgehalten ist, so wie auch der Wegweiser am Wittenbergplatz, wo inmitten des Trubels der zum KaDeWe Strömenden geschrieben steht: Orte des Schreckens, die wir niemals vergessen dürfen.
Berlin sollte sich selber ernst genug nehmen, es bedarf keiner Simulation, Suggestion, Animation. Wir brauchen keine Spielereien, Bürger sind keine Kinder. Statt erfundener Denkmäler und Konstruktionen ginge es um die Markierung von Orten, die nicht erfunden, sondern nur sichtbar gemacht werden müssen. Mit Orten kann man nicht nach Gutdünken und willkürlich umspringen. Man muss auf das achten, was einem ein Ort zu sagen hat. Früher hat man das einmal genius loci genannt. Wir bräuchten weniger selbstherrliche Event-Manager und Choreographen als vielmehr – eine Formulierung von Franz Hessel – »Diener des genius loci«.
Postskriptum : Es gibt noch genug Arbeit für die Erschaffung funktionierender städtischer Räume und hochsymbolischer Orte. Die Kreativen könnten sich entfalten an einem Platz, der auf seine Weise einzigartig ist: Der Europaplatz, der ein wirklicher Platz der Wiedervereinigung sein könnte – am Hauptbahnhof, im Zentrum der Stadt, an der alten Grenze gelegen, das Regierungsviertel in Sichtweite, im Schnittpunkt der Verbindungen zwischen Amsterdam und Warschau, Kopenhagen und Budapest, Moskau und Zürich –, ist bis heute nicht mehr als ein Zwischending von Parkplatz und Autobahn auf der Nordseite des Hauptbahnhofs, ein Unort mitten in der Stadt. Es gibt also genug Räume, an denen sich Liebe zur Stadt und Phantasie beweisen könnten. Man muss sich nichts ausdenken.
(2011)
Stimmübungen in D
Wir sprechen vom Schauplatz der Geschichte, von Helden auf der historischen Bühne, von dramatischen Zuspitzungen, von Fehlbesetzung oder einem Rollenwechsel, der fällig ist, von Statisten, die ihren Abgang haben, von historischen Tragödien, Komödien und Farcen. Theatrum mundi nannten die Alten die Geschichte. Das gilt besonders in Zeiten des Übergangs, wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden und auf den ersten Blick nicht immer zu erkennen ist, wo die Wirklichkeit, die zur Fiktion zu werden beginnt, aufhört und wo als Fiktion wahrgenommen wird, was sich bei näherem Hinsehen als der Kern einer neuen Realität zu erkennen gibt. Europa nach 1989 ist ein grandioses Schauspiel, und das neue Deutschland ist einer der Hauptschauplätze darin.
Seit 1989 geht nun das Stück, das viele Assistenten, aber keinen Autor und keinen Regisseur hat. Es hat seine dramatischen Höhepunkte gehabt und seine Längen. Es floss kein Blut, es gab keine wirklich überzeugende Intrige, keinen Meuchelmord und keine Palastrevolte, die Plebejer probten nicht den Aufstand, ein bisschen »Clockwork Orange«, ein bisschen Großinquisitor. Nur auf den Nebenschauplätzen weit hinten in der Türkei ging es blutig zu mit Blutopfern, Blendungen und Massenvergewaltigungen archaischen Zuschnitts.
Wir haben quer durch alle Gattungen alles zu sehen bekommen – vom bürgerlichen Trauerspiel bis zur kommunistischen Groteske, museale Remakes aus der Konserve und aufregende Live-Aktionen, »The Wall« und »Mutter Courage«, Lichterprozessionen, Mysterienspiele neben Narrenpossen. Detektivgeschichten gab es zuhauf. Alle Tonlagen sind zur Geltung gekommen – von schrill bis getragen.
Es ist Zeit, dass die Kritik Rückschau hält. Ist die Kritik mit der
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