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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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Saison zufrieden? Die Kritik hat sich nicht an die eigene Idee vom Stück zu halten, sondern nur zu beurteilen, ob das, was auf der Bühne geschieht, den Anforderungen der Kunst genügt. Der Kritiker, der im Namen der Realität antritt, macht sich so lächerlich wie derjenige, der den Schauspieldirektor simuliert. Die Kritik hat einen anderen Job. Sie verfährt »immanent«. Sie muss dem Geschehen folgen, die Genauigkeit von Einsätzen beurteilen, auf das Zusammenspiel des Ensembles achten oder die Dissonanzen heraushören, die glückliche Hand oder den Missgriff bei der einen oder anderen Rollenbesetzung plausibel erläutern. Der Kritiker hat einen Logenplatz, nicht aus Privileg, sondern von Berufs wegen. Er steht im Abseits, wo man besser sehen kann. Er ist von Beruf Voyeur. Seine Stärke ist sein Gehör. Er kennt sich in klassischen Texten aus und weiß, wie weit man bei der Modernisierung von Texten gehen kann, ohne ihnen Gewalt anzutun. Er ist wie Beckmesser Analytiker, nicht Besserwisser. Er weiß etwas von den Schwierigkeitsgraden der diversen Partien, weil er eine entsprechende Ausbildung durchlaufen hat. Er beurteilt nicht gute oder schlechte Absichten, sondern konstatiert deren Gelingen oder Scheitern. Er stellt seine Vorlieben hintan bis zur Selbstverleugnung, um denen, die ihr Bestes geben, gerecht zu werden. Seine Aufgabe ist nicht, eine Moral aus der Geschichte zu vermitteln, sondern Aufschluss darüber zu geben, ob Geschichten schlüssig sind oder konstruiert. Er interessiert sich dafür, ob eine Pointe sitzt oder verfehlt ist. Der Kritiker nimmt Maß am Besten, das an der Grenze des Scheiterns geschieht, nicht am Mittelmaß, an dem sich jeder auslassen kann. Er kennt den Ernstfall, der ja nie darin besteht, dass einer nicht will, sondern nicht anders kann. Zuschauen ist sein Beruf: Man muss sich Zeit nehmen für Stücke, die man in- und auswendig kennt, weil man sie schon oft gesehen hat – aristotelisch streng, brechtisch verfremdet und postmodern. Er hält sich zurück, weil er die Maßstäbe des Handwerks achtet, und er scheut die Unterhaltung, zu der das Mundwerk reicht. Der Kritiker nutzt seinen Blickwinkel, um das im Blick zu behalten, was den Akteuren in ihren Kollisionen entgeht – die ganze Bühne, von ganz vorn bis ganz hinten, von ganz links bis ganz rechts. Zu seinen Privilegien gehört: nicht dazuzugehören, nicht Partei sein zu müssen. Er hat nur mit Spiel und Spielern zu tun, aber da kennt er sich aus. Er unterscheidet den Ton , in dem eine Geschichte gelingt, von dem Ton, der eine ganze Geschichte verderben kann.
    Die Kritik ist mit dem Stück, das Deutschland heißt, überfordert. Es ist, als wolle sie immerzu ein Stück besprechen, das sie selber – in verschiedenen Versionen – im Kopf hat, nicht das, das die Geschichte auf der Bühne arrangiert hat. So kommt es ständig zu Vorhaltungen an die Regie, sie sei nicht gut genug. Die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit hat alles durcheinandergebracht. Das Szenario sprengt alle herkömmlichen Maßstäbe, aber die Kritik begnügt sich damit nicht: Sie sollen so hoch sein wie sie selber.
    Dabei wäre alles so einfach. Man muss sich nur ansehen, was in den letzten Jahren auf der deutschen Bühne alles aufgezeichnet worden ist. Wir können die Akteure, die in aller Munde waren, nun aber abgetreten sind, noch einmal besichtigen; wir können uns die Passagen, die deklamiert und proklamiert worden sind, noch einmal ins Gedächtnis rufen; wir können den rasenden Film anhalten und Studien zu Gesten und Körpersprache treiben, Drehbücher nachlesen, Zitate überprüfen und einen Ton, der längst verhallt ist, noch einmal abrufen. Selten ist ein Stück so gut dokumentiert worden wie das deutsche, das Medienzeitalter hat es möglich gemacht. Das Risiko des Fehlurteils ist hoch. Es wird nicht geringer dadurch, dass man weiß, was ohnehin jeder weiß: dass Geschichte keine Inszenierung ist, dass Historiker, die Fakten von Fiktion nicht unterscheiden können, so erledigt sind wie Theaterrezensenten und deren Bühnenhelden, die das, was auf der Bühne geschieht, für das wirkliche Leben halten.
    »Dekorationswechsel«. Alles begann in dem Augenblick, als der Eiserne Vorhang aufging. Für eine Generalprobe war keine Zeit. Man hatte die Ouvertüre überhört und stolperte Hals über Kopf auf die Bühne, auf der ein neues Stück begann. Aus Massen wurden Chöre. Der Spielplan war über Nacht durcheinander. Man musste re-agieren, eine gute

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