Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Schauplatz der Abwicklung des alten Zustandes geworden. Das hieß zunächst und vor allem: Denkmalsturz, Namenswechsel für Straßen und Plätze, Farbwechsel, symbolische Umkodierung und dann Hinauswachsen über den alten Zustand. Es konnte meistens nicht schnell genug gehen, und in der Tat: Revolutionen schaffen nicht, sie bauen nicht, das bleibt der Aufbauzeit vorbehalten. Es ist einfacher abzuräumen. So sind überall in den östlichen Hauptstädten Lapidarien und Skulpturenparks, Endlagerstätten für demontierte Führer und Symbole angelegt worden. In einigen Städten gibt es Museen und Erinnerungsparks mit Interieurs, die, wenn es gut gemacht ist, den Geruch der vergangenen Epoche verströmen oder die Stimmung des Raumes wiedergeben, in dem die Verhöre stattgefunden haben. Oft werden an die Stelle der gestürzten Helden von gestern die Helden von vorgestern gesetzt. An vielen Orten sind noch weit ältere Zeiten ausgegraben worden, um dem gekränkten nationalen Bewusstsein aufzuhelfen und eine Vergangenheit in Szene zu setzen, die es so nie gegeben hat. Berlin hatte Teil an diesem Wirbel der Geschichte, und das ist ja eigentlich das Faszinierende für jeden Besucher und das vielleicht Bestürzende für viele, denen die eigene Stadt, in der sie ihr Lebtag lang lebten, abhanden gekommen ist. Noch immer lässt sich mit bloßem Auge beobachten, wie die Stadt sich verändert. Alles sortiert sich neu, alles setzt sich neu zusammen: das, was wichtig und was weniger wichtig ist; die Geschichten, die aufhören interessant zu sein, weil sie von gestern sind; die Geschichten, die man noch nie gehört hat, weil ihre Zeit noch nicht gekommen ist. Es ist gut, dass die Stadt über die Mauer hinweggewachsen ist und dass sich die hässlichen Spuren, die sie in der Stadt hinterlassen hat, verwischen: Straßen, die ins Aus laufen, Brücken, die aus dem Verkehr gezogen waren, U-Bahn-Tunnel, die einmal zugemauert waren. Es ist gut, dass der Puls der Stadt nicht länger von einer Ost-West-Grenze, sondern von den Imperativen eines großen städtischen Organismus bestimmt wird; es ist gut, dass die Brachen und Schneisen, die die lange Nachkriegszeit in Berlin geschlagen hatte, bebaut werden und das Gewebe der Stadt rekonstruiert wird. Die Vorstellung, man müsse auf alle Ewigkeit die Brachen konservieren, um die Erinnerung an die »offenen Wunden« wachzuhalten, ist ja kindisch; das Bewusstsein wird nicht durch die Brachen, sondern durch Erinnerung und Wissen der Bürger wachgehalten. Die Bilder, Gedenktafeln, Denkmäler besagen: Hier ist es geschehen, so ist es gewesen. Berlin hat seine markanten Orte der Vergegenwärtigung von Teilung und Wiedervereinigung: das Mauerfragment an der Topographie des Terrors, die East-Side-Gallery, die Bernauer Straße und natürlich Checkpoint Charlie, diesen belebtesten aller Erinnerungsorte (der Sprung des Volkspolizisten über die noch niedrige Stacheldrahtrolle). Aber nirgendwo fallen Ort und historisches Ereignis so sehr zusammen wie am Brandenburger Tor.
Überall in Berlin kann man die Spuren der Teilung und ihrer Verwischung ausmachen, und es bedarf eigentlich keiner Inszenierung und keiner Simulation – und schon gar nicht an einem Ort, der mit der Teilungs- und Wiedervereinigungserfahrung herzlich wenig zu tun hat: etwa an der ehemaligen Schlossfreiheit. Der »Bürger in Bewegung« bedarf keiner »Deutschlandwippe«, um sich die Schwierigkeiten und Fortschritte vor Augen zu führen. Er pendelt ohnehin zwischen Savignyplatz und Alexanderplatz, zwischen Wilmersdorf und Prenzlauer Berg, zwischen Tegel und Schönefeld und macht sich seinen Reim. Die S-Bahn ist der (oftmals gestörte) Shuttle durch die Stadt, in der es ziemlich normal und unaufgeregt zugeht. Bürger in Bewegung wollen nicht spielen oder etwas ausprobieren, sie wollen nicht schaukeln, nichts simulieren, sondern ernst genommen werden. Das Schauspiel der Stadt ist faszinierender als alles, was eine noch so phantasiereiche Inszenierung auf die Beine stellen könnte.
Berlin braucht sich nicht zu inszenieren. Es ist seltsam, wie gedankenlos und leichtfertig die Stadt mit dem Privileg des Ortes, vielleicht auch den Verpflichtungen, die sich aus dem historischen Ort ergeben, umgeht. Einen großen Teil ihrer Phantasie investiert sie in die Erfindung von Räumen und Orten, die mit der Geschichte, die vergegenwärtigt werden soll, kaum etwas zu tun haben. So konstruieren die Nachgeborenen Orte und Räume nach eigenem Gusto, während die
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