Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Voraussetzung für schönes Spiel. Ein ganzes Land wurde zum Schauplatz. Michail Bachtin hätte seine Freude gehabt an diesem »Karneval der Geschichte«, Richard Wagner wäre glücklich gewesen über das Gesamtkunstwerk Deutschland. Wovon Generationen von Bühnen-Revolutionären geträumt hatten, war Wirklichkeit geworden: Das Leben wurde zum großen Schauspiel, und das Schauspiel hörte auf, bloß Theater zu sein. Die Theatralisierung des Lebens erfasste Ort, Zeit und Handlung. Das Fernsehen ist überall live dabei, und die bloße Gleichzeitigkeit lässt aus den vielen kleinen Ereignissen die geschichtliche Handlung werden. Öffentliche Plätze wurden zu Schaubühnen. Alles findet statt an den Originalschauplätzen, die Szenen sind nicht gestellt. Wer eben noch Zuschauer war, wird zum Akteur, und wer eben noch ein Held war, musste von der Bühne. Eines ergibt das andere, niemand spielt sich in den Vordergrund, weil alle das Risiko des Scheiterns ahnen. Alle halten den Atem an, weil etwas geschieht, woran niemand glaubt. Aber das Märchen ist wahr: Der Kaiser ist nackt. Die Grenze zwischen Einbildung und Wirklichkeit ist überschritten, man überschreitet sie kein zweites Mal. Dies ist der kostbarste Augenblick, die Überschreitung der Grenze in eine andere Zeit, eine andere Wirklichkeit. Verstummen . Kein Wort reicht heran an das, was geschieht. Agiert wurde vor dem Brandenburger Tor, das wieder auf war, auf Straßen, die nicht mehr gesperrt waren. Alles wurde zur Kulisse: die Leere des Potsdamer Platzes, Bankfoyers, U-Bahn-Stationen mit symbolträchtigen Namen. Für das Finale ist der Nachthimmel über Berlin gerade groß genug. Die Fassaden sind von Scheinwerfern illuminiert. Die breiten Straßen sind erfüllt von festlichen Umzügen und Autocorsi. Die Sprechchöre kommen gut skandiert, obwohl nicht geprobt worden ist. Alles ist ernst wie bei der kultischen Handlung, aus der das Theater hervorgegangen ist, und fröhlich wie bei einem Spiel, in dem mehr zum Tragen kommt als nur die Realität. Im Deutschen Theater gibt es eine Rundumbühne, auf der zwei Ensembles aufeinandertreffen – mit verschiedener Bildung, verschiedener Sprache, verschiedenem Gestus. Die Synchronisation braucht Zeit. Man greift nach der Zeit. Was war, soll nicht gewesen sein. Die neue Zeit hat ihren eigenen Kalender mit neuen Festtagen und neuen Ritualen. Man wechselt die Namen und Zeichen. Man spielt neue Rollen. Der Dekorationswechsel ist vollzogen. Eine Geschichte ist zu Ende, eine andere hat begonnen.
Die Rollen und ihre Darsteller. Nichts bleibt, wie es war, wissen alle, und jeder muss auf seine Weise damit zurechtkommen. Am gigantischen Rollenwechsel haben fast alle teil, wenn auch auf ungleiche Weise. Bewohner von Palästen wechseln in Untersuchungsgefängnisse. Aus Anklägern werden Angeklagte, aus Ohnmächtigen mitunter und vorübergehend Mächtige. Alle erfasst der geschichtliche Sog: Philosophen werden Propheten, Politiker zu Talkshow-Stars, Dichter schreiben Zeitdiagnosen, Minister ergehen sich in Poesie, Geheimdienstleute machen auf Journalismus und in anderen Geschäften. Nur die Ingenieure bleiben bei dem, worin sie sich wirklich auskennen: beim Bau von Straßen und Brücken, die das Land so nötig hat. Niemand fühlt sich mehr wohl in der alten Rolle, die bis dahin sein Leben war. Was wahr war, ist nun die Illusion, und die Zukunft ist nicht das, was der Gegenwart folgt, sondern ihr vorangeht – als Versprechen. Die neuen Rollen sind schwierig. Am leichtesten fällt der Wechsel der Kostüme. Der Fundus ist groß und bietet für jeden etwas: von konventionell bis extravagant. Wer neu eingekleidet ist, dem fallen auch die Gesten, die zum neuen Schnitt gehören, leicht. Schwieriger ist es da, wo man etwas zu sagen hat oder nichts zu sagen hat. Man fällt aus der Rolle, kommt ins Stottern oder ringt um Worte. Auch kommt es vor, dass eine Rolle zu groß für jemanden ist. Am besten kommt klar, wer den neuen Text gut memoriert und Selbstsicherheit auch da spielen kann, wo sie ihm abgeht. Man freut sich über jeden Debütanten und ist verblüfft, zu welcher Hochform Leute aufgelaufen sind, von denen man bisher so wenig hielt. Der Bedarf an Personal auf der Bühne, die so viel größer geworden ist, ja sich zur Weltbühne geweitet hat, ist groß. Gespielt wird in der üblichen Besetzung, zu der junge Helden, abgeklärte Greise, klassische Charakterrollen und komische Charaktere gehören. Die burschikose Hosenrolle darf nicht fehlen,
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