Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Einrichtung, die immer wieder Interpretationen und Kommentare herausforderte, war jenes aus einer Kombination von Holz, Blech und Plexiglas verkleidete Förderband, auf das der Kontrollposten Pass und Wagenpapiere gelegt hatte, die man dann, wenn man endlich die Grenze hinter sich gebracht hatte, wieder in Empfang nahm. Irgendetwas war auf dem Weg zwischen dem Verschwinden der Papiere auf dem Förderband und der Aushändigung passiert, aber man konnte nur spekulieren, was. Sicherlich haben die Historiker, die sich nach der Wiedervereinigung mit diesen Details und Prozeduren beschäftigt haben, inzwischen herausgefunden, was im Einzelnen passiert ist, und sicherlich gibt es über diese Vorgänge Regalkilometer von Unterlagen. Wir, die Zeitgenossen jenes Schleusungsvorganges, werden diese Akten nicht mehr sichten, aber doch jenen, die nur vom Hörensagen davon wissen, genauer berichten können, dass es so etwas gegeben hat. Und zwar an mehreren Stellen, die auf den mental maps unserer Generation gespeichert sind bis zum Ende der Tage: Lauenburg, Probstzella, Sassnitz, Bad Schandau, ja auch an anderen Grenzen gab es diese Prozedur.
Interzonenzüge, Paris-Moskau. Das Design der Züge – und damals war die schnellste und komfortabelste Klasse der D-Zug – hatte sich noch nicht so sehr auseinanderentwickelt, wie das in den 1990er Jahren schlagend in Erscheinung trat. Im Westen Europas gingen die dem Flugzeug nachgebildeten aerodynamischen TGV s und ICE s an den Start, im Osten Europas blieben die Züge in der Form, die das ganze 20. Jahrhundert über gegolten hatte: kastenförmige Waggons, aneinandergereiht, von einer schwarzen Lok gezogen. Waggons wie Wohnzimmer auf Rädern, mit Blick in die Landschaft. Vor dem Mauerfall gab es noch ein irgendwie einheitliches Eisenbahn-Europa, durchgehend von Paris bis Moskau, mit Anpassung der Räder an die in der Sowjetunion gültige Spurbreite an der Grenze in Brest. Die Farbe des Paris-Moskau-Express war tannengrün. Endstation war nicht Berlin-Zoologischer Garten oder Friedrichstraße. Dort gab es auch ein anderes Publikum. Diplomaten, Künstler, Funktionäre, die in jenen Zeiten noch nicht im Flugzeug, sondern in der weichen oder Schlafwagenklasse unterwegs waren. Man konnte dort interessante Gespräche führen. Die gewöhnliche Interzonenverbindung wurde genutzt von gewöhnlichen Leuten, die es gewöhnt waren, sich den ermüdenden Prozeduren und Kontrollen auszusetzen, und die nicht gefährdet waren, wie jene Passagiere, die schon aus Gründen der Sicherheit ihrer Person die PanAm-Maschine von Tempelhof aus nehmen mussten (freilich gab es auch Flüge zum Sondertarif für Studenten, die nach »Westdeutschland«, nach Hause flogen; die Berliner Studenten waren in jenen Zeiten die Vorläufer der späteren – subventionierten – Billigflieger). Im Interzonenzug gab es eine bestimmte Atmosphäre: Man musste durch, und man war zusammengehalten durch das Tunnelerlebnis zwischen Helmstedt/Marienborn und Griebnitzsee/Dreilinden. Solche Erfahrungen, die in der Coupé-Öffentlichkeit vorgenommenen Befragungen und Kontrollen stellten ganz ungewollt eine Intimität her, der sich niemand entziehen konnte. Man teilte sich seine Beobachtungen mit: über die Penibilität der Kontrollen, die Schäferhunde, eventuell neue Uniformen usf. Interzonenzüge waren rollende Enzyklopädien, an ihnen ließ sich der Gang der weltgeschichtlichen Ereignisse ablesen. Störungen dort waren meist nicht betriebsbedingt, sondern Folgen diplomatischer Verwicklungen. Auch das Ende der Teilung der Welt ließ sich ablesen, am genauesten am Paris-Moskau-Express: Er wurde Mitte der 1980er Jahre zum Shuttle zwischen Moskau und Westberlin, intelligent genutzt von den Studenten der Patrice-Lumumba-Universität in Moskau, die als Bürger nichtsozialistischer Staaten Bewegungsfreiheit genossen und regelmäßig auf der Insel Westberlin anlandeten. So verwandelte sich die Station Bahnhof Zoo für ein paar Jahre zum Umschlagplatz für billige Unterhaltungselektronik und die Kantstraße in einen ost-westlichen Basar. Dies wäre eine geschichtliche Darstellung wert: eine andere Geschichte vom Ende des Ost-West-Konflikts, befördert von intelligenten und intellektuellen Ameisenhändlern, Ingenieuren, Agronomen, Wasserbauspezialisten aus allen Ländern der Dritten Welt. Ihnen hat noch niemand Dank abgestattet.
Karlsbad, Prag und östlicheres Gelände . Meinen ersten Eindruck, dass es einen Osten gab, der nicht in München
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