Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
eine Enthüllung, dort ein Trick. Man will nicht immer in der moralischen Anstalt sein, sondern auch Talkshows und Unterhaltung haben. Man will nicht immerzu in sich gehen und sich an die Brust klopfen, sondern auch einmal aus sich herausgehen und ausgesprochen wissen, was man wirklich denkt . Es muss Schluss sein mit der Katharsis, die doch niemandem nützt außer dem Veranstalter des Weihespiels. Das Publikum gibt sich zu erkennen als die ursprüngliche kultische Gemeinde. Das Publikum sieht großzügig über die kleinen Pannen und Patzer hinweg, wenn nur das Ganze stimmt. Es reagiert ungehalten, wenn sich die Stimme der Sänger überschlägt – das geht auf die Nerven. Man braucht die große Melodie besonders in modernen Zeiten, wo die Tonalität in Gefahr ist und die Dissonanzen übermächtig werden. Am wenigsten aufmerksam ist das Publikum bei Gespensterkämpfen, am meisten ist es bei der Sache bei den Pausenfüllern, wenn die Pierrots und Clowns vor den Vorhang treten. Zirkusnummern kommen gut an. Wenn es zu bunt, d.h. zu langweilig wird und die Leute an der Nase herumgeführt werden, bleiben sie weg. Man spricht dann vom Theater in der Krise, wo es sich doch nur um die Krise der ganzen Veranstaltung handelt. Das Publikum ist erwachsen. Niemand wartet auf einen deus ex machina .
Ende des ersten Aktes und Warten auf den Ton. Die Bilanz der Saison: ein gewöhnliches Stück in ungewöhnlichen Zeiten. Sichtbar geworden sind die Schwächen: Stimmen mit geringer Artikulation und Modulation, mangelhafte Souveränität im Vortrag, Vorliebe für kurzfristige Effekte und Defizite im Zusammenspiel. Geld ist nicht alles. Eine Partitur spielen zu können macht noch kein Konzert. Schwäche in den mittleren Lagen. Der einzigartige Solist, die glänzende Primadonna retten noch keine Aufführung. Die Effekte, auf denen das Regietheater basierte, haben sich erschöpft. Die Ausstattungsstücke kann man sich nicht mehr leisten. Das Leben besteht nicht bloß aus Festivals.
Schon klar ist, dass das Stück nicht zu Ende ist, sondern nur der erste Akt. Wir warten auf die Fortsetzung des Stücks. Deutschland ist ein großes Auditorium, vielleicht hat man hineingehört und macht sich seine Gedanken. Vielleicht denkt man über die Umbesetzung von Rollen nach, vielleicht werden zum Abschied Verdienstorden verliehen. Vielleicht kommt es zum Wechsel in der Intendanz oder zur Auflösung des Ensembles. Vielleicht achtet man nun etwas mehr darauf, dass das Gesamtensemble ins Spiel kommt, und nicht bloß darauf, dass die Routiniers versorgt werden. Gefragt sind neue Gesichter und Stimmen – mit langem Atem und guter Ausbildung, und solche, die die Freiheit der Gestaltung haben, die sich das Recht auf einen eigenen Ton herausnehmen. Sie sind die Meister der Zwischentöne und des sicheren Einsatzes, der sich ergibt, wenn man hinhört. Vielleicht nimmt man sich jetzt, da man sich die aufwendige Verwaltungs- und Technikmaschine nicht mehr leisten kann, die Zeit für neue Gedanken. Die Diva auf dem Höhepunkt ihres Ruhms tritt ab, die Diva, die es nicht lassen kann, bleibt. Alles soll besser werden, nicht auf provisorischen Bühnen, sondern neuen großartigen Theatern. Der große Auftritt wird vorbereitet. Unterdessen werden die Geschichten geschrieben, von denen man nicht genug bekommen kann. Sie stehen in den Zeitungen, unter Immobilien und Lokales, nicht im Feuilleton. Eine unendliche Chronik der Ereignisse , die dort, wo die Haupt- und Staatsaktionen spielen, nicht von Belang ist. Dort bildet sich der Ton, der erklingt, wenn der Schlachtenlärm der Nachhut verklungen ist. Dort sind die Regeln in den Sand gezeichnet, nach denen das Spiel weitergeht.
Ein Ton stellt sich ein , einen Ton macht man nicht. Entweder ist das Volumen da oder nicht. Er kommt anstrengungslos und sicher. Er hat die Krämpfe hinter und die Freiheit, alles ausdrücken zu können, was er will, vor sich. Er geht aus sich heraus, ohne exaltiert zu sein. Er hat nicht recht, sondern ist nur da. Er ist Kraft, aber frei schwebend. Er ist weich, aber nicht sentimental, er ist treffsicher, aber nicht hart. Er findet einen Zugang zum Herzen, aber schleicht sich nicht ins Ohr. Er ist geschmeidig. Er fühlt sich erst wohl, wenn er gefordert wird in der ganzen Breite seines Könnens, und er arbeitet an der Erweiterung seines Repertoires. Er überzeugt auch ohne den Pomp aufwendiger Kulissen. Er verlangt vom Hörer viel, er macht niemanden nieder mit dem Brustton der Überzeugung . Er
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