Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
schlechtes Konzert zustande. Die schnellen Sätze kommen zu schnell und die langsamen Sätze zu langsam. Aus einem Agitato wird ein zu gemütliches Moderato, und wo ein Vivace fällig war, wird ein Largo von unendlicher Larmoyanz gespielt. Man muss Ruhe haben und sich Zeit lassen, um das Tempo zu finden. Aufgeregtheit führt zu falschen Einsätzen – sie kommen zu früh oder erst dann, wenn alles vorbei ist. Das Schwierigste sind die Pausen, die mit Zählen allein nicht zu halten sind. Man braucht Mut und Gelassenheit , um eine Fermate bis ans Ende durchzuhalten. Angst vor dem Schweigen ist Angst vor der Musik. Große Musik kommt aus dem Verstummen-Können. So wird aus »Meeresstille und glückliche Fahrt« Kitsch, aus einer Allemande , die so anmutig sein kann, ein lächerliches Gehopse, aus den »Deutschen Tänzen« ein Contredanse , bei dem die Bewegungen irgendwie nicht stimmen.
Keine noch so opulente Ausstattung macht die Bewegungsunsicherheit wett. Man kann sich nicht auf ewig in den düsteren oder prächtigen Kulissen verstecken – man steht beim neuen Stück allein auf der Bühne. Das Publikum hat einen guten Instinkt für das, was Knalleffekte und geborgte Gesten sind. Der große Schauspieler, Tänzer, Sprecher ist so frei wie ein Souverän. Er fürchtet sich nicht vor Missverständnissen, weil er sich zutraut, sich verständlich gemacht zu haben. Sein Stottern ist überzeugender als der ewig angestrengte Ton . Seine Unsicherheit nimmt ihm jeder ab. Seine Gebärde stammt nur von ihm, er kommt ohne Mimikry und einen Zipfel vom Mantel der Geschichte aus, er braucht keine Claqueure.
Ensemble-Leistungen sind in der deutschen Aufführung aus oben genannten Gründen besonders schwer, und wenn es sie gibt, sind sie besonders kostbar. Repräsentativ ist nicht unbedingt, was mit dem Hündchen vor dem Schalltrichter – His Master’s Voice – auf den Markt kommt. Am besten klappt es bei Verwaltung, Logistik und Technik. Der Maestro nimmt sich zu wichtig, von Dramaturgen und Regieassistenten hält er weniger als von der Werbeabteilung. Doppelkonzerte hat er nie gespielt, von Doppelregie versteht er wenig. Rivalitäten sind unvermeidlich, aber wenn es auf Kosten des Zusammenspiels geht, wird aus dem Concerto grosso nichts. Ein großes Orchester ist keine Dilettantenversammlung und keine Hofkapelle . So kann aus einem Ensemble von Weltrang eine Provinztruppe werden. Musiker und Schauspieler sind Solisten, keine Kumpane . Sie sind keine Marionetten, man unterfordert sie nicht ungestraft. Wenn das Stück aus dem Ruder läuft, liegt nichts näher als der Ruf nach einem starken Schauspiel- und Musikdirektor. Aber dann ist es meist schon zu spät. Ein Ensemble, das man gegeneinander ausgespielt hat, findet nur selten den Ton und den Tritt wieder. Und man tut, was man tut, wenn Stellen vakant geworden sind. Man schreibt die Stelle aus zum öffentlichen Wettbewerb.
Die Akteure und ihr Publikum. Dem deutschen Ensemble gehören Profis und Anfänger an – eine gute Mischung. Alle beherrschen ihre Rollen – vielleicht zu gut. Etwas mehr Lampenfieber und Nervosität erhöhten die Spannung, die man zum gelungenen Spiel braucht. Man ist um die Trennung von Zuschauern und Akteuren auf der Bühne bemüht – eine Errungenschaft der zurückliegenden revolutionären Periode. Das Publikum soll aktiv einbezogen werden. Das Publikum ist, je nach Stand der Handlung, bei der Sache oder langweilt sich. Claqueure sind so selten wie Ovationen. Es ist dankbar, dass man es mit Modernem nicht allzu sehr überfordert, und es versteht die Kritik nicht, die an allem herummäkelt. Es will nicht aus der Ruhe gebracht werden. Es ist nicht aufmüpfig und jedenfalls so weit kultiviert, dass es einen Abend nicht platzen lässt. Es weiß, wie man sich benimmt. Buhrufe sind das Äußerste. Es honoriert das Konzert schöner Stimmen, auch wenn sie alt geworden und nur mehr der Nachhall einstigen Glanzes sind. Man hat für die Aufführung bezahlt. Es ist nicht einfach, es einem so verschieden zusammengesetzten Publikum ohne Konzessionen an den Durchschnittsgeschmack recht zu machen Man will den Kampf der Matadore und Protagonisten sehen, aber man wendet sich gelangweilt ab, wenn es sich immer nur um dieselben vordergründigen Intrigen und Retourkutschen handelt. Nach all den Aufregungen mit den historischen Augenblicken steigt die Nachfrage nach Normalität. Aber mit Überraschungen wird die Handlung wieder in Bewegung gebracht – hier eine Entlarvung,
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