Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
begann, hatte jemand wie ich, der in einem Dorf im Allgäu aufgewachsen ist, von den Flüchtlingen bekommen, die nach dem Krieg auf dem väterlichen Hof einquartiert waren. Drei Familien allein bei uns, im Dorf fast ein Drittel der Bevölkerung Neuzugewanderte von überall her aus den Gebieten des ehemaligen deutschen Ostens, die nun sowjetisch, polnisch oder tschechisch geworden waren. Aber es dauerte noch eine Weile, bis ich die Orte, von denen sie immerzu sprachen – ihre Heimat eben – selber zu sehen bekam: Eger/Cheb, Znaim/Znojmo in Südmähren, Budweis/Budĕjovice in Südböhmen, sogar Breslau, das jetzt Wrocław hieß. In den 1960er Jahren ging mit einem Schulkameraden die erste größere Fahrt in die Tschechoslowakei. Wiederum das Erlebnis der Grenzüberschreitung bei Schirnding. Der kräftige Rußgeruch an den Bahnhöfen. Fahrten durch Ortschaften vor allem an den Rändern des Landes, die auch knapp 20 Jahre nach dem Krieg noch immer wie leergefegt von Menschen waren. Gehöfte, um deren eingefallene Dächer sich niemand kümmerte, Durchfahrten, von denen der Verputz abfiel, Barockanlagen von Konvikten und Klöstern, in denen sich sowjetische Truppen breitgemacht hatten oder psychiatrische Anstalten eingerichtet worden waren. Das also war der Landstreifen, aus dem eine ganze Bevölkerung – mehr als zwei Millionen – ausgesiedelt, ausgetrieben worden war; das also waren die Orte, deren Bewohner nun nach Bayern versetzt waren. Vor allem die Ortschaften im Grenzgebiet schienen noch immer in einer Nachkriegszeit zu verharren, eine Stadt wie Eger schien nur belebt von der einen oder anderen Roma-Familie – Zigeuner sagte man damals –, die in die von Deutschen geräumte Stadt umquartiert worden war. Aber dann Prag. Die Stadt mit ihren Gärten, Kirchen, Kuppeln, den alten Brücken war schwarz wie das alte, verwitterte Gemäuer, ein Abbild der Schwarz-Weiß-Photographien der Vorkriegszeit, aber sie stieg auf, monumental in ihrer barocken Pracht und konzentrierten Urbanität (ja, der Wenzelsplatz war damals, in jenem vom Krieg und Nachkrieg verwüsteten Europa, einer der intensivsten und belebtesten urbanen Plätze Europas). Prag war uralt, aber es war auch auf eine frappierende Weise modern, vom ersten Augenblick an die wahre Metropole Mitteleuropas, ein Zentrum der studierenden Jugend Lateinamerikas, Afrikas, Asiens. Diese Massierung von Jugend und Intelligenz konnte man nicht nur in den Studentenwohnheimen in Strachov sehen, sondern sie schlug sich nieder in der Atmosphäre in den Bierkellern und Kneipen auf der Kleinseite und auf der Vinohradská. Prag war eine merkwürdig internationale Stadt, lange vor dem Einfall der westlichen Touristen. Man konnte diese Dritte-Welt-Internationalität in je spezifischer Ausprägung auch in anderen östlichen Metropolen beobachten: viele Araber in Budapest und Bukarest, viele Chinesen in Moskau und Sofia, Inder, Chinesen, Lateinamerikaner in Prag. In Prag konnte man weg- und untertauchen, im Dschungel aus Antiquariaten, Museen, Kneipen, Kinos und Kabaretts. Für Mahendra, den indischen Ingenieur in Prag, war die Stadt nicht so sehr eine Stadt im Ostblock, sondern stand für Europa. Die über Wissenschaft und Ausbildung vermittelte Internationalität in den Städten des Ostblocks wirkte wie eine leichte Entschädigung für den Kosmopolitismus, der unter den Panzern der Nazis und im Mief des National- und Parteikommunismus zugrunde gegangen war. Aber für die aus dem Westen kommenden jungen Leute war eine Stadt wie Prag ein Signal: Es gibt jenseits eurer zerbombten und hässlich wieder aufgebauten Betonstädte noch etwas ganz anderes – ein Europa, das fast unversehrt erschien.
Jeans, Plastiktüten, Soft Power. Mitte der 1960er Jahre, als ich zum ersten Mal eine längere Reise in die Sowjetunion unternahm, erlernten wir schnell die Semantik des Tausches und den Tauschwert spezifischer Gebrauchsgüter. Einige, die besonders clever und informiert waren, hatten sich auf solche Reisen auch gezielt vorbereitet. Sie führten in ihren Koffern wenigstens zwei oder drei Paar Jeans mit, einige spezialisierten sich auf Kugelschreiber, für Kinder wurde Kaugummi eingepackt. Jeans wurden auf Toiletten im Kaufhaus GUM anprobiert oder blind gekauft, auf Campingplätzen, wo Ausländer und Sowjetmenschen miteinander in Kontakt kamen. Jedes dieser Tauschobjekte und jede dieser Prozeduren war ein komplexer interkultureller Vorgang – so würde man das heute vermutlich nennen. Ob es
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