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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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ist ein Meister der Zwischen-, Halb- und Vierteltöne. Er setzt nicht auf Lautstärke, sondern auf das Erlernen des Kontrapunkts. Er weiß, was ein mehrstimmiger Satz ist, und er will es auf keinen Fall so weit kommen lassen, dass wir hinter die Polyphonie zurückfallen.
    Im Chor hat jeder eine Stimme . Irgendwann folgt der Generalprobe der Ernstfall.
    (1992)

Jenseits von Marienborn oder
Kalter Krieg privat
    Das Ende des Kalten Krieges oder Wie man alt wird. Man wird unwillkürlich zum Historiker der Zeit, deren Zeitgenosse man gewesen ist. Eine Epoche ist zu Ende gegangen, und wenn man diese beschreibt, beschreibt man zugleich auch ein Stück des eigenen Lebens und umgekehrt: Das individuelle Leben fällt mit der historischen Zeit zusammen. Das hat nichts mit Selbstliebe oder Selbstüberschätzung zu tun. Man merkt es, wenn man mit jungen Leuten zusammen ist, mit denen man über Ereignisse spricht, die vor ihrer Geburt liegen, die man selbst aber miterlebt hat. Man berichtet aus der eigenen Zeit, die ihre Vorzeit ist. Es lohnt sich, sich dieser Zeit genau zu erinnern. Die subjektive Erinnerung bewahrt Details, Nuancen, Valeurs, die im Betrieb der Geschichtsforschung entweder gar nicht vorkommen oder später, wenn man deren Fehlen bemerkt, mühsam rekonstruiert werden müssen.
    Das Podest. Erkenntnispunkt . An verschiedenen Punkten entlang der Berliner Mauer – aber auch an der innerdeutschen oder deutsch-tschechoslowakischen Grenze – waren Plattformen errichtet, die man besteigen konnte, um einen Blick über die Grenze, über das Niemandsland hinweg auf die andere Seite werfen zu können. Solche Podeste standen am Reichstag, am Bethanien-Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg; eine Aussichtsplattform mit Gucklöchern, die an Schießscharten erinnerten, gab es an der Oberbaumbrücke. Besucher der Hauptstadt erstiegen sie und richteten ihren Blick auf die andere Seite. Dort standen Posten – an manchen Stellen waren sogar Sichtblenden installiert – und blickten aus Ferngläsern auf jene, die die Aussichtsplattformen bestiegen hatten. So kam es, wie das bei Feindbeobachtung üblich ist, zu einer wechselseitigen Beobachtung der Beobachter. In dieser Fixierung lag eine wesentliche Erkenntnis, aber auch nur ein Teil der Wahrheit. Man muss heruntersteigen von der Aussichtsplattform und eine Blickwendung vollziehen, damit einem nicht entgeht, was sonst im toten Winkel bleibt.
    Rite de passage. Für eine ganze Generation, vielleicht sogar für zwei, wurde die Überschreitung der innerdeutschen Grenze, die zugleich die Grenze zwischen den Weltsystemen war, zu einer das Leben prägenden Erfahrung. Sie wurde mit allen Sinnen wahrgenommen, sie hat sich beinahe körperlich eingeprägt. Und doch fällt es kaum 20 Jahre später fast schon schwer, die Details ins Gedächtnis zurückzurufen. Da war ein Geruch – aber welches Desinfektionsmittel roch so? –, im Winter das chronisch überheizte Kabuff, in das einer gebeten wurde, wenn etwas mit dem Pass nicht zu stimmen schien, die Gesten und Blicke, die einen spüren ließen, dass man als Passagier dieser Grenze ein Nichts war, das jederzeit aufgehalten und ausgefragt und vielleicht sogar zurückgewiesen werden konnte. Die überheizten Räume, die charakteristisch waren für den verschwenderischen Umgang mit Energie im Sozialismus, verbanden sich mit dem Geruch von Schweiß, der nicht der Angst geschuldet war, wohl aber einem Unbehagen und einer Unsicherheit, die einen erst wieder verließen, wenn man das Hoheitsgebiet dieser Grenzbeamten verlassen hatte. Man hatte Zeit, viel Zeit, um seine Beobachtungen anzustellen. Beobachtungszeit war sogar eine Form der Selbstberuhigung. Bewältigung der in der Schleuse zwischen den Welten verbrachten Zeit. Alle Vorrichtungen und Apparate schienen auf die Verlangsamung von Bewegungen ausgerichtet. Die Autos hatten sich rechtzeitig in einer der zahlreichen Spuren einzuordnen, und wehe, man hatte nicht aufgepasst, ein Verweis, eine Verwarnung, mindestens aber weiterer Zeitverlust waren die Konsequenz. Man bewegte sich, wenn ich mich recht erinnere, zeitweise sogar in einer Art Slalom zwischen allerlei Betonbarrieren und Pfosten. Man wurde durch ein gestaffeltes System von Kontrolleuren und Posten geleitet, die im Winter oder bei Regen von grünbraunen Pelerinen beschützt wurden, die von den Schultern herabhingen. Obligatorisches Herunterdrehen des Fensters, Hinausreichen der Papiere, Hinhören auf den Ton und die Intonation. Die bemerkenswerte

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