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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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Budapest übertragen wurde; auch eine Stimme, die verzweifelt klang, hat sich mir eingeprägt.
    Herr Martschuk in seiner Drogerie in Schwabing. Emigranten mit Schlapphut . München war im Nachkriegsdeutschland das Zentrum der antisowjetischen Emigration; Westberlin war zu gefährlich, wie man aus Entführungen durch den sowjetischen Geheimdienst wusste. Viele kamen aus den DP -Lagern, von denen es nach dem Krieg in der amerikanischen Zone besonders viele gab. Sie waren hängengeblieben oder hatten sich dorthin gerettet. Ukrainer, Russen, Litauer, Letten, Polen, oft Leute mit gemischten Biographien, die ihre speziellen Gründe hatten, nicht in den Bereich der Sowjetarmee zurückzukehren. In München sammelten sich gewisse Potentiale, die sich wiederum in von den Amerikanern großzügig finanzierten Instituten einfanden, eines hieß etwa Institut zur Erforschung der Sowjetunion, eine Mischung aus Gelehrsamkeit, Spionage, Dilettantismus (entsprechend fanden sich nach Auflösung des Instituts in den Münchener Antiquariaten sowohl Kostbarkeiten wie allerlei ideologische Makulatur). Hier liefen Fäden zusammen, wie sie in einer Welt, die dabei war, sich nach dem großen Krieg neu aufzustellen, eben zusammenliefen: Flüchtlinge, Verfolgte, Widerstandskämpfer, Nazi-Kollaborateure, Spezialisten der Abwehr, Nachrichtenleute, Spione, aus alten Nachrichtendiensten in neue überführt, Anständige, Gestrandete, Kriegsgewinnler. München war voll davon, eine exotische und kosmopolitische, aber auch miefige Szene, die ihre Darstellung noch nicht gefunden hat. Herr Martschuk hatte eine Drogerie in der Kaiserstraße in München-Schwabing. Ich lernte ihn Ende der 1960er Jahre kennen. Wenn die Ladentür aufging, dann schlug sie eine Glocke an der Decke an, und es erschien ein Mann mit einer 50erJahre-Hornbrille, zog den Vorhang mit dem einen Arm zur Seite, der andere war eine mit schwarzem Leder verkleidete Armprothese; er hatte im Krieg den Arm verloren. Die Regale der Drogerie waren irgendwie immer leer, und ich fragte mich, wie er von diesen dürftigen Verkäufen überhaupt leben konnte: Waschmittel, Süßigkeiten, Schnürsenkel. Aber das Eigentliche spielte sich nicht in der Drogerie ab, sondern in einem angrenzenden kabuffähnlichen Zimmer, das zum Hof hin lag. Dort gab es ein Sofa, vielleicht schlief Herr Martschuk dort auch, einen Schreibtisch, bis zur Decke reichende Regale, in denen Ordner, Kartons und viel Papier lag, Dokumente, Flugblätter, wichtige Mitteilungen, wie ich später herausfand. Herr Martschuk, so setzte er mir zu einem Zeitpunkt, als sich endlich ein Vertrauensverhältnis hergestellt hatte, auseinander, hatte nicht nur der OUN -M angehört, also jener von Andrij Melnyk geführten Fraktion der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung, sondern gab sich auch als der bevollmächtigte Vertreter der ukrainischen Exilregierung in Kanada zu erkennen (viele Jahre später brachte er mich mit Petro Hrihorenko zusammen, dem sowjetischen General, der sich den Dissidenten angeschlossen und ins Exil gegangen war). All die feinen ideologischen Differenzen und Fraktionierungen waren mir anfangs nicht durchschaubar, was aber offensichtlich war, war jene Atmosphäre der Konspirativität, die die Drogerie und Herrn Martschuk umgab. Er führte ein Doppelleben als Drogerist und als Repräsentant einer ukrainischen Exilregierung, daher rührten der nur formelle Geschäftsbetrieb und die distanzierte Höflichkeit gegenüber den Kunden aus der Nachbarschaft, während es in Wahrheit um hochdramatische politische Vorgänge ging, eine gespielte Normalität also, während man sich doch im Untergrund wähnte und offenbar auch nicht ungefährdet war: In den späten 1950er Jahren hatte ein Killer des KGB den in München lebenden Führer der ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera im Treppenhaus abgeknallt – ich entsinne mich sogar noch der Schlagzeilen in den Zeitungen, die den Mord gemeldet hatten. Herr Martschuk erklärte mir auch, dass er und seine Kameraden bei wichtigen Staatsbesuchen unter Hausarrest stünden oder sich immer wieder melden müssten. Es war ein großes Privileg, als er mich einmal mit einem größeren Kreis seiner Kameraden zusammenbrachte – der Anlass war ein Besuch eines Vertreters der Exilregierung – und sie mit ihren Funktionen vorstellte: Minister für Erziehung, Vorsitzender der Jugendorganisation, Stellvertretender Außenminister usf. – alle im Hinterzimmer der Schwabinger Drogerie. Der Kalte Krieg hatte

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