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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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echte Levi’s oder nur Imitate waren, es gab eine Hierarchie – das Amerikanische selbstverständlich an der Spitze; Zigaretten spielten eine große Rolle, und es konnte von großer Bedeutung sein, ob man mit Pall Mall, Camel oder Chesterfield handelte. Überall funktionierte diese Währung, die Jeanswährung, die Zigarettenwährung, die Parfumwährung. Es gab auch eine Bücherwährung, und manche waren damals unterwegs, die transportierten gratis und ohne Aussicht auf Gewinn Bibeln in kyrillischer Schrift. Wohin diese Gegenstände gelangten und wie dieser hochinteressante schwarze Markt aussah – auch das wäre ein Thema für Historiker dieser Formation und dieser Epoche. In den 1950er Jahren gab es in den östlichen Hauptstädten jene Parallelbewegung zu den westlichen Halbstarken und Rock-’n’-Roll-Fans, die am Abend die Trottoire der Gorkistraße unsicher machten und mit ihrem Outfit – Haartolle, Lederjacken, Röhrenhosen, schmale Lederstiefel – die Miliz zur Weißglut brachten: die Stiljagi, wie sie genannt wurden, als moralische und ideologische Konterrevolution in Zeiten der Entstalinisierung. Der Eiserne Vorhang war nie ganz hermetisch. Der Sound von Platten und Bands, das Design und die Farbe von Stoffen und neuen Schnittmodellen – auch Schnittmodelle waren eine Währung für sich –, nicht zuletzt Literatur, Bücher – sie alle sickerten ein auf Tausenden von Kanälen, in Tausenden von Taschen. Das war kein kompakter Underground, aber eine Art Zeichen- und Signalsystem, das nicht nur Eingeweihte zu lesen verstanden. Walter Benjamin hatte recht mit seiner Bemerkung über Mode: Wer die Mode zu deuten verstünde, könnte auch über die kommende Revolution Auskunft erteilen. 1 Die trivialste und alltäglichste Form, in der sich die andere Welt zu erkennen gab, waren am Ende die Plastiktüten. Auf ihnen wanderten die Farben und Logos der großen weiten Welt durch die Straßen Moskaus und Warschaus, fuhren gratis in den Metrozügen und auf den Rolltreppen mit und fanden ihren Weg hinaus in die letzte Ortschaft an der sowjetisch-chinesischen Grenze. Weltkontakt in geschlossenen Gesellschaften. Ameisenbetrieb unterhalb des Systems der Abschreckung.
    Das Rauschen im Äther: Radio Liberty, Radio Free Europe, Voice of America. Wann immer man Freunde in Moskau zu Hause aufsuchte, gab es fast immer jenes schwer zu ertragende kratzende Rauschen, das bei nicht genau eingestellten Radiofrequenzen entsteht. Man hatte Mühe, überhaupt verständliche Worte aus diesem Rauschen herauszufischen. Aber es lag nicht am Gerät, das meistens auch nicht gut war, nicht am Sender, sondern an den Störsendern. Es gab Orte, wo man besseren Empfang hatte – auf der Datscha vor den Toren Moskaus vielleicht oder an der Ostsee –, und es gab Orte, an denen gar nichts zu hören war. Man lebte mit diesem Geräusch und mit dem Sendesignal als Erkennungsmelodie, man drehte ganz automatisch den Knopf und fand den Sender, man kannte die Sprecher, ihre Stimme, ihren Akzent, ihr Temperament und ihren Standpunkt. So entwickelten sich Beziehungen über den Äther, Vorlieben und Abneigungen. Aber das Wichtigste waren die Nachrichten aus der Ferne über das eigene Land. Man erfuhr aus den Redaktionen in London, Köln, Washington D.C. und München, wann welches Manuskript beschlagnahmt worden war, wer vorgeladen worden war, wer das Land verlassen hatte und wer welchen Job im Exil gefunden hatte. Exilanten sprachen über den Äther zu ihren Landsleuten. Es gab Leute, die hatten längst aufgehört, Zeitungen zu lesen, ihr Informationssystem, vielleicht sogar ihr Weltbild wurde immer mehr durch die Mitteilungen des Radios, den nicht abreißenden Strom der Informationen, Enthüllungen geformt. Die Stimme aus dem Äther lieferte den Stoff für die nächtlichen Gesellschaften in den Moskauer Küchen, man lobte, wie gut ein Redakteur recherchiert hatte, oder ließ kein gutes Haar an ihm, wenn er sich vertan hatte. So existierte eine globale Welt schon in Zeiten, da sie noch geteilt war. Das Geräusch des Radios hatte auch den positiven Nebeneffekt, das Abhören zu erschweren. Aber vielleicht war das nur eine Illusion.
    Meine eigene Erinnerung an den politischen Ostblock ist übrigens auch mit dem Radio verbunden: Budapest 1956. Beim Mittagessen lief die Kiste mit dem grünen Auge des alten Volksempfängers, und aus ihm waren der Widerhall der Einschüsse und das MG -Geknatter zu hören, das von mutigen Radioreportern direkt vom Lenin körút in

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