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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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seine ganz eigentümlichen, dunklen, skurrilen Schauplätze mit Personal, Gesten und Gepflogenheiten, die es nur in dieser Umgebung geben konnte. München, Pullach, Garmisch-Partenkirchen, verschiedene schöne und vom Krieg versehrte Orte sind leider fast vollständig im Schatten der Kalten-Kriegs-Mythen – Oberbaumbrücke (Berlin), Dritter Mann (Wien), Glienicker Brücke (Potsdam) für den Agententausch – verschwunden.
    Am Englischen Garten: Die Sowjetunion als Gemeinschaftswohnung . Der Titel, den der amerikanische Historiker Yuri Slezkine seinem großartigen Essay »The USSR as a Communal Apartment« über die Komplexität des Gebildes UdSSR gegeben hatte, passt erstaunlich gut auf den Gebäudekomplex am Isarkanal am Englischen Garten in München, in dem für gut 50 Jahre die Münchener Redaktionen von Radio Liberty und Radio Free Europe untergebracht waren. 2 In den 1980er Jahren, also in Zeiten, als Solidarność in Polen zu einer Bedrohung für das kommunistische Regime wurde, hatte es dort einen Bombenanschlag gegeben, aber ansonsten war es so ruhig, wie es am Englischen Garten eben ruhig sein konnte. Eine Reihe von einfachen weißgetünchten Blocks, eine 1960er-Jahre-Variation auf die klassische Moderne, umgeben von einer Mauer, mit Schlagbaum, später kamen strenge Sicherheitskontrollen hinzu. Die Büros waren einfach, zweckmäßig, spartanisch eingerichtet, amerikanische offices mit Metallschränken und beweglichen Regalen, immer glänzend gescheuertem weichen Linoleum auf den Fluren. Vermutlich war es der internationalste Ort in München, vielleicht sogar in Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren. Eine Vorstellung davon konnte man in der Mittagspause in der Cafeteria bekommen. Alle Sprachen des sowjetischen Blocks waren zu hören, darüber hinaus sicher auch die Sprachen all jener Länder, die von den Sendern im Kampf um ideologische Hegemonie mitbearbeitet wurden. Russisch, Litauisch, Estnisch, Weißrussisch, Ukrainisch, Georgisch, Armenisch, diverse Sprachen und Dialekte Zentralasiens, zahlreiche kaukasische Sprachen. In den Glasvitrinen der Cafeteria leuchteten amerikanische yellies in allen Farben, der Service, das Tempo, die Höflichkeit – alles in einer bayerisch-amerikanischen Mischung. Die Gebäude hinter den Mauern am Englischen Garten bargen eine Sowjetunion en miniature , finanziert vom amerikanischen Kongress, ein ganz einzigartiger multiethnischer, multilingualer, multikultureller Komplex mit hervorragenden Spezialisten und Kennern der Materie. Personae non gratae im Sowjetblock und gezwungen, sich aus der Ferne ein Bild von der Lage im Land zu machen, in das sie hineinsendeten; oft lebten sie auch in gated communities in den Vororten von München und pflegten dort untereinander, ganz isoliert von der bayerischen Umwelt, ihre Beziehungen. Die Radiostationen hatten vorzügliche Rechercheabteilungen, erstklassige Dokumentationen und begnadete Archivisten. Das »Archiv des Samizdat« und viele andere Sammlungen wurden hier über die Jahre hin zusammengestellt. Die Sammlungen bildeten nach 1989 den Kern der neu gegründeten Archive der Open Society Institutes in Budapest und Prag. Ähnlich sah es bei der BBC in London und bei Voice of America in Washington D.C. aus. Wir haben inzwischen Studien über die deutsche oder die russische Diaspora in den 1920er und 1930er Jahren, mit ihren Zeitungen und Verlagen. Die Geschichte der Radio City – ob in München, London, Washington – wäre ein wichtiger Bestandteil einer Geschichte des Kalten Krieges, die mehr wäre als nur ein Studie über Politik, Raketen und Propaganda.
    Gustav Wetters »Dialektischer Materialismus« als Vorbereitung auf die Welt des Kommunismus . Jeder Schüler absolvierte seit den späten 1950er Jahren und gewiss seit dem Mauerbau seinen Berlin-Besuch. Es hatte tatsächlich etwas von Frontstadt-Besuch. Man sah überall noch Ruinen, kriegsverwüstete Gebäude, Straßenzüge, die in Westdeutschland schon längst wieder in Ordnung gebracht worden waren. Die Schulklassen wurden durch ein Besichtigungs- und Informationsprogramm von hoher Intensität geschleust, aber was wirklich blieb, war der Eindruck von einer großen, unförmigen, noch nicht ganz wieder zu sich gekommenen Stadt von einer Ausdehnung und Größe, wie es sie sonst in Deutschland nicht mehr gab. Teil des Informationsprogramms waren, wenn ich mich recht erinnere, Berichte von Zeitzeugen, von Entführungen durch östliche Geheimdienste, aber auch Ausführungen

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