Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
zur Theorie des Marxismus. Ich verdanke meine erste ernsthafte Bekanntschaft mit dem Marxismus einem zweiwöchigen Seminar, das einer von unserer Abschlussklasse organisierten Reise in die Sowjetunion im Jahre 1966 vorausging. Wir sollten aufgeklärt werden, gründlich, systematisch. Leiter des Seminars war ein Jesuitenpater – Professor Falk SJ –, und Grundlage waren die von Gustav Wetter SJ , dem damals besten Kenner der »Sowjetideologie«, verfassten zwei Bände zum Historischen und Dialektischen Materialismus. Das Erstaunliche damals – an einem bayerischen Internat, das von Benediktinern geleitet wurde und an dem man fakultativ Russisch lernen konnte – war, dass es eigentlich nicht um Entlarvung oder Widerlegung des Marxismus ging, sondern darum, ihn entsprechend seinem Selbstverständnis darzustellen und zu verstehen. In diesem Seminar ging es aber auch um Politik, um kollektivierte Landwirtschaft, die Stellung des Künstlers und der Intellektuellen. Die geteilte Welt des Kalten Krieges kannte Klosterschulen in Bayern, an denen Russisch unterrichtet wurde, das soll heißen: die Welt ist immer weniger hermetisch und systematisch als in den Köpfen derer, die die Welt nur als System denken können.
Brief an Chruschtschow. Ich erinnere mich nicht genau, ob es vor oder nach dem Besuch von Jewgeni Jewtuschenko in Deutschland war, wo er sensationell – ein junger russischer Dichter im Gestus Majakowskis – auf offener Bühne seine Poeme »Stalins Rückkehr« und »Babij Jar« rezitiert hatte. Jedenfalls schrieb ich einen Brief an Nikita Chruschtschow, in dem ich etwas von meinem Interesse für die russische Sprache und Literatur erzählte und ihn fragte, wo man russische Bücher bekommen könnte. Es vergingen wohl drei bis vier Monate, und es traf ein dickes Bücherpaket ein, in grobem braunen Packpapier, das es im Westen schon nicht mehr gab, ordentlich verschnürt – ich lernte später, dass so solide verschnürte Pakete nur in sowjetischen Postämtern abgeschickt wurden –, mit reichlich Büchern. Der Inhalt des Pakets gab, wie ich heute verstehe, ganz gut die geistige Situation der frühen 1960er Jahre wieder: Darin fanden sich ein dicker Roman des Stalinisten Wsewolod Kotschetow und ein schön aufgemachter Band zum »Tag der Poesie«, dessen künstlerische Gestaltung die Linie des sowjetischen Konstruktivismus der 1920er Jahre wieder aufnahm. Die 1960er Jahre, in denen die Luft der Stalinjahre noch nicht verflogen war, und der Versuch, noch einmal anzuknüpfen an den unruhigen Geist der frühen Avantgarde.
Gründgens und Pasternak en profil. Ich weiß nicht, wer die Aufnahme gemacht hat, aber allein dieses eine Photo würde dem Photographen, der es »geschossen« hat, einen Platz in der Galerie der großen Künstler sichern. Ich fand es zuerst in der Pasternak-Biographie, die der junge Gerd Ruge, der schon in den 1950er Jahren als Korrespondent nach Moskau gegangen war, geschrieben hatte. Es zeigt den Schauspieler und den Dichter, als sie sich hinter der Bühne des Moskauer Theaters gegenüberstanden, in dem Gründgens zusammen mit der Truppe des Hamburger Schauspielhauses gerade den »Faust« gespielt hatte. »Faust« in Moskau, das deutsche Drama par excellence in deutscher Sprache, keine zwei Jahrzehnte nach dem furchtbaren Krieg, den die Deutschen nach Russland getragen hatten. Gründgens steht, noch in der Maske des Mephisto, mit dem weißgeschminkten Gesicht mit dem markanten Kinn und der betonten Nase Pasternak gegenüber, dem Studenten der Universität Marburg in den Jahren 1910 bis 1912, dem »Faust«-Übersetzer mit einem Profil, das an den Schädel eines edlen Rassehengstes erinnert, einem vorgeschobenen Kinn, einem strengen Mund, einer unglaublichen Nase, die in eine eindrucksvolle Stirn übergeht. Man glaubt, Pasternak die Qualen anzusehen, die er nach der Verleihung des Nobelpreises hatte über sich ergehen lassen müssen. Das Bild hält einen Moment der Begegnung von Künstlern fest, an denen das 20. Jahrhundert zwar seine Spuren hinterlassen hat, letztlich aber doch abgeprallt war. Pasternak-Gründgens hinter der Bühne, sich ins Auge blickend, das ist für mich der ganze Ernst und das ganze Glück des Augenblicks, der trotz alledem möglich geworden war – trotz des Krieges, in dem alles verbrannt war, was Russland und Deutschland je verbunden hatte.
Angehaltene Zeit. Sobald man den Zug in Friedrichstraße oder am Ostbahnhof – alias Schlesischer Bahnhof, alias Hauptbahnhof –
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