Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Räumen, die grenzenlos waren. Und die Leute wussten das auch. 3 Jene, die die Enge wohl am meisten empfanden, die Bürger eines Landes, das eingesperrt war »zwischen Elbe und Oder«, waren auch besonders viel unterwegs, wohin auch immer sie entweichen konnten: in die tourismuserfahrene Tschechoslowakei, an den Plattensee oder die Küsten des Schwarzen Meeres, in die Beskiden oder die Hohe Tatra. Ich bin Studenten aus der DDR begegnet an den entferntesten Punkten: auf der Grusinischen Heerstraße im Kaukasus, in den Zügen nach Swerdlowsk und auf den Datschen in der Umgebung von Leningrad. Sie setzten sich ab, zusammen mit den wilden Campern an der Steilküste der Krim, in den Expeditionen von Geologen im Pamirgebirge oder im Altai. Noch ganz spät, als das Imperium bereits bröckelte, fuhr ich mit einer Gruppe von Polen – Männer mittleren Alters – im Zug aus Moskau zurück. Sie kamen nach einer mehrtägigen Fahrt aus Ulan Bator zurück. Sie hatten dort Halbedelsteine gesammelt, die sie zu Hause weiterverkauften (es war die polnische Krisenzeit Anfang der 1980er Jahre). Wie sich herausstellte, waren sie perfekte Landeskenner und noch viel weiter gereist. In den Jahren zuvor hatten sie ähnliche Fahrten nach Nordkorea und an die Pazifikküste unternommen. Dass man gleichsam vom Radarschirm verschwinden kann, auf dem sonst alle Bewegungen registriert werden, war eine meiner ersten Erfahrungen. Autostopp, wildes Zelten, Schwarzfahren im Zug – die allgegenwärtige Enge und Knappheit an allem ließ gar keine andere Möglichkeit, als sich selbst auf den Weg zu machen. Die Vorstellung, dass nur organisierte und kontrollierte Bewegungen stattgefunden haben, ist ganz naiv; sie geht noch im Nachhinein dem Planfetischismus auf den Leim. Natürlich gab es Reisen in den Bahnen des Staatstourismus und der Gewerkschaftsferienheime, aber noch mehr waren auf eigene Faust unterwegs. Auch in der östlichen Hemisphäre waren die Urlaubswochen eine Zeit out of control , Zeiten des Ausprobierens, Sich-Gehenlassens, der Libertinage und der Exzesse. Bilder, wie sie Antonioni in »Zabriskie Point« produziert hatte – die Orgie in der kalifornischen Wüste –, waren ganz harmlos im Vergleich zu den Szenen am nächtlichen Strand von Sotschi in den 1960er Jahren.
Zentrales Telegraphenamt. Vor-Handy-Zeit . Es ist schon im alten Westen nicht ganz einfach, sich die Kommunikation in der Zeit vor dem Mobiltelefon vorzustellen. Um wie viel schwieriger ist der östliche, spezieller: der sowjetische Fall. Um als Student Anfang der 1980er Jahre ein Auslandsgespräch zu führen, musste man in Moskau den Zentralen Telegraphen in der Gorkistraße im Zentrum Moskaus aufsuchen. Dort reihte man sich ein in die Schlange der Telefonierwilligen, und das waren in einer so großen Stadt wie Moskau nicht wenige. Wenn man an der Reihe war, meldete man das Gespräch an, füllte ein Formular mit Telefonnummer und Namen des gewünschten Partners aus und ging zurück in die Reihe, bis man aufgerufen wurde. Das konnte zwei bis vier Stunden dauern. Zu bezahlen war vorab, und das Gespräch wurde auch exakt und ohne Vorwarnung nach Ablauf der bezahlten Zeit abgebrochen. Diese Prozedur war anstrengend, nervenraubend, kommunikationsfeindlich. Am besten, man gewöhnte sich für die Zeit eines längeren Moskau-Aufenthalts daran, seine Beziehungen ins Ausland abzubrechen. Selbstverständlich gingen alle Ausländer, die ein Telefon benutzten, davon aus, dass sie abgehört wurden. Steigerungen der Bürokratisierung des grenzüberschreitenden Austausches waren aber durchaus möglich. Ich entsinne mich an die Prozedur beim Verschicken der von mir erworbenen Bücher, wofür eine Abteilung in der Lenin-Bibliothek zuständig war, die von einer überaus sympathischen und kenntnisreichen, gewiss für diesen Job überqualifizierten Bibliographin geleitet wurde. Nicht alle im Lande erworbenen Bücher durften exportiert werden. Bücher, die älter waren als zehn Jahre, bedurften einer Genehmigung, Bücher, die vor 1945 erschienen waren, galten durchweg als antiquarisch kostbar und waren kategorisch von der Ausfuhr ausgeschlossen. Wenn ich mich recht erinnere, war die Liste der zur Ausfuhr bestimmten Bücher in sechsfacher Ausführung abzuliefern. Auszufüllen waren die Rubriken: Autor, Titel, Ort und Jahr des Erscheinens, Verlag, Seitenzahl, Höhe der Auflage, Preis. Und da sich im Laufe eines Jahres vielleicht eine ganze Bibliothek angesammelt hatte, saß man vor dem Gang zum
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