Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
bestiegen hatte, war man in eine andere Zeitzone eingetreten, auch wenn man sich bis zur sowjetischen Grenze in Brest noch in der Mitteleuropäischen Zeit ( MEZ ) bewegte. Man war herausgefallen aus dem gewöhnlichen und hektischen Getriebe, die Diktatur des Tempos, die etwas mit Mithalten-Müssen und Mithalten-Können zu tun hatte, war abgestreift, man war in eine Zone der Entspannung und Entschleunigung eingetreten, die zu romantisieren keinerlei Grund besteht, die aber konstatiert werden muss, weil sonst nur von Einschüchterung, Angst, negativen Zügen also, die Rede ist. Die späteren Jahre, die Endzeit, die Stagnationszeit des Sozialismus, die »breschnewistische« Verfallszeit empfand man fast physisch als bleierne Zeit, als Schmerz. Aber es gab eben auch die andere, in der die Aufhebung der Diktatur der Zeit als etwas Angenehmes empfunden werden konnte. Es gab Zeit im Überfluss, denn die Freunde, die man aufsuchte, waren immer anzutreffen, immer zu Hause. Das Leben spielte sich ohne große Überraschungen, überschaubar und übersichtlich ab, wenn man nicht selbst einen Anlass zur Verwirrung lieferte. Alles war vorgezeichnet, die Nachfrage nach Berufen und Qualifikationen war grenzenlos, auch wenn sie in Wahrheit vielleicht nur eine Fiktion war; doch in der realsozialistischen Ökonomie spielte die Nachfrage ohnehin keine Rolle. Man musste sich keine Sorgen um den künftigen Arbeitsplatz machen. Man heiratete früh, bald kamen die Kinder, vielleicht noch während des Studiums. Eine Atmosphäre der Sicherheit bei allen Begrenzungen und Beschränkungen. Aus dem Westen ankommend, wurde man immer mit Aufmerksamkeit bedacht, man hatte etwas zu berichten, weil man von draußen kam, man konnte der Aufmerksamkeit ohne besondere Anstrengungen sicher sein. Und so saß man in den berühmten »Moskauer Küchen«, inmitten gemischter Gesellschaften mit Physikern, die in Wahrheit Historiker waren, und Geographen, die in ihrem zweiten Leben Gedichtbände edierten. Lagerfeuersituation in den beengten Verhältnissen der Moskauer Wohnungen, eine geschützte Welt der Freundschaften und des Vertrauens. Man sieht dies heute, wo das alles der Vergangenheit angehört, viel deutlicher. Jetzt sind die Freunde, die man früher wie selbstverständlich antraf, unterwegs; sie sind auf Konferenzen in Bologna oder Paris, sie müssen Geld verdienen, und sie verdienen genug, um nun selbst in die ganze Welt reisen zu können. Man muss nichts mehr erzählen, sie sehen sich jetzt selber um. Radikaler Bedeutungsverlust des Fremden nach dem Verschwinden der Großen Grenze. Mit der Öffnung kam auch die Etablierung der Herrschaft der Zeit. Die Geschichte schien plötzlich wie losgelassen, die Ereignisse überstürzten sich, manchmal konnte man nicht sagen, was der nächste Tag bringen würde. Aufregende Zeiten, die eine Neuorganisation des ganzen Nervenapparates und des Lebenshorizontes in sich schlossen. Die geschlossene Gesellschaft im östlichen Europa des Kalten Krieges lebte in einer homogenen Zeit; das ist heute, da diese Welt zerfallen ist und sich eine Landschaft der zerklüfteten Zeit herausgebildet hat, erst richtig erkennbar. Eine Geschichte des Kalten Krieges ist ohne jene differente Zeitwahrnehmung, ohne die verschiedenen Zeitregime ganz bodenlos (und man wird hier generell darauf gestoßen, dass eine Geschichtsarbeit, die aufgehört hat, über Zeit an sich nachzudenken, ziemlich flach ist).
Verschwinden im Raum, Freiheit . Der Warschauer Pakt, der Comecon – für die junge Generation bereits bedeutungslose Kürzel aus prähistorischer Zeit – war gewiss ein Zwangszusammenhang, befestigt durch Wachen, Sperren, Mauern, Stacheldraht, von einem Eisernen Vorhang, der weiter im Osten sogar, wie man sagte, in einen Bambus-Vorhang überging. Aber das Imperium war zu groß, um lückenlos beherrscht, durchherrscht und kontrolliert zu werden. Der Ostblock hatte scharfe und unüberschreitbare Grenzen, aber in dem Land mit dem größten Territorium, in der UdSSR , gab es keine Grenzen: Man wechselte aus Russland nach Georgien oder von Russland nach Usbekistan, von Leningrad nach Tallinn oder Riga – und überschritt keine einzige Grenze. Grenzenlosigkeit innerhalb des geschlossenen Blocks. Das sich vorzustellen ist für Angehörige der europäischen Kleinstaatenwelt nicht ganz einfach. Der Zwangszusammenhang hatte große weiße Flecken und große schwarze Löcher, in denen man verschwinden und untertauchen konnte, mit Korridoren der Flucht,
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