Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Staatshymne. »Jede Epoche der deutschen Geschichte sang mit denselben Worten ein anderes Lied«, so Hermann Kurzke. Hat also jeder seinen eigenen und jeweils anderen Heinrich Hoffmann von Fallersleben, dient er als Vexierspiegel und Projektionsfläche für ganz unterschiedliche, ja unvereinbare Hoffnungen und Interpretationen? Und ist das so erstaunlich bei einem so langen Leben zwischen 1798 und 1874 in einem so langen Jahrhundert, das mit den Erschütterungen der Französischen Revolution beginnt und in die »Urkatastrophe« des Ersten Weltkrieges einmünden wird. Im Leben dieser Person, dieser Generation sind alle vorgefundenen Verhältnisse erschüttert und umgestoßen worden. Sie wurde Zeuge des fast lautlosen Hinscheidens des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, des imperialen Ausgreifens des revolutionären Frankreich, des Zusammenbruchs Preußens und der ganzen alten europäischen Welt, aber auch des Aufbruchs der demokratischen und nationalen Freiheitsbewegung gegen Fürstenmacht und Fremdherrschaft; sie sah Barrikadenkämpfe und Spitzeltum im großen Stil, die Wucht des Weltmarktes, den Vormarsch der Industrialisierung und die Revolutionierung der Verkehrsmittel, in die noch die abgelegenste Provinz hineingerissen wurde, die Einigung eines in Dutzende von Fürsten- und Herzogtümern zerfallenen Landes und den Boom einer Gründerzeit, die einen unaufhaltsamen Fortschritt versprach. Es ist die Geburt der modernen bürgerlichen Gesellschaft und der modernen Nation, kraftvoll, aber auch mit einer Dynamik, die sich nur schwer bändigen ließ. Das ist mehr, als in ein einziges Leben normalerweise hineinpasst. Und so bewegt und so widersprüchlich wie das Jahrhundert ist auch dieses Leben. 1
Für Nachgeborene ist es immer einfach, ja verführerisch, sich mit eindrucksvollen Gestalten zu identifizieren, besonders wenn es positive Helden sind – oder sich von ihnen abzusetzen, je nachdem. Und so fällt es einem 68er, als der ich mich sehe, nicht schwer, das Pathos, mit dem Hoffmann von Fallersleben gegen das Fürsten-Establishment und das ancien régime anrannte, nachzuvollziehen und mit ihm zu sympathisieren. Wie sehr fühlt man sich an die eigene Studentenzeit erinnert, wenn Hoffmann in seinen Erinnerungen über das Outfit der Oppositionellen schreibt: »Jeder im deutschen Rocke und mit einem Schnurrbarte galt damals für einen höchstgefährlichen Menschen, dem man das Schlimmste zutraute.« Dass er sich nicht den Mund hat verbieten lassen und seinen kritischen Auffassungen treu geblieben ist und dafür sogar in Kauf genommen hat, seine Professur an der Universität Breslau zu verlieren – wem aus der Generation derer, die das Berufsverbot kennengelernt oder den Marsch durch die Institutionen angetreten haben, imponiert nicht sein Spott über die Philister, vornehmlich die Professoren, auch wenn man nun selber dazugehört:
Wer geizet nach Titeln, nach Orden und Geld
Sein ganzes gelehrtes Leben?
Wer ist, wenn man nur ihn erträglich stellt,
Der zufriedenste Mann in der ganzen Welt
Und jeder Regierung ergeben?
Ihr fragt: wer können die Männer wohl sein?
Das sind, das sind Deutschlands Schriftgelehrte allein.
Aus heutiger Sicht tut man sich schwer mit seinem Rat an die Juden, dass sie eine Verbesserung ihrer Lage, die »Emancipation« – so der Titel eines Gedichtes von 1840 – nur erreichen und »durch der Freiheit Thor« nur ziehen werden, wenn sie von ihrem Gott, »auf Wucher, Lug und Trug bedacht«, abließen. Und noch schwerer tut man sich mit seinem abgrundtiefen Franzosenhass, wenngleich er unschwer zu erklären ist aus einer Situation, in der der Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit unweigerlich mit dem Kampf gegen Fremdherrschaft verschränkt war. Franzosenhass und Freiheitsliebe in jener Zeit – das geht nur für jene nicht zusammen, für die die Welt allzu einfach nur aus Reinen oder Unreinen besteht.
Aber ich könnte auch einen direkten Bezug zu Hoffmann von Fallersleben herstellen: Meine Universität, die vor 20 Jahren wieder gegründete Viadrina in Frankfurt an der Oder hat zum Zeitpunkt ihrer Schließung und Verlegung nach Breslau im Jahre 1811 ihre Bibliothek verpackt und stromaufwärts transportiert, wo sie den Grundstock der neuen Universitätsbibliothek bildete. Der Kustos, der die Bücher in mühseliger Arbeit katalogisierte, war kein Geringerer als Heinrich Hoffmann von Fallersleben, wie wir nicht zuletzt aus den Forschungen von Marek Holub von der jetzt polnischen
Weitere Kostenlose Bücher