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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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Alma Mater Vratislaviensis wissen. 2 Heute kehrt die Bibliothek, nach Kriegswirren, Gründung der polnischen Universität, Jahrhunderthochwasser an der Oder in digitalisierter Form – finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft – als virtuelle Bibliothek an ihren Ausgangspunkt, an die Viadrina zurück; man kann sie anklicken, in ihr herumgehen und den Katalog online öffnen. Hoffmann von Fallersleben gehört, wenn Sie so wollen, zu den Bewahrern der alten Viadrina-Bücherwelt; darüber hinaus verdanken wir ihm, der sich in der Stadt nie glücklich gefühlt hat – »Breslau hatte etwas Fremdes für mich, es machte auf mich gar nicht den Eindruck einer deutschen Stadt«; »Es war mir eigentlich von Deutschland zu fern« –, Einblicke in den kulturellen und gesellschaftlichen Kosmos der schlesischen Metropole. Er war einer der ganz wenigen in der Teilungsmacht Preußen, der die slawische Vergangenheit Schlesiens erkannt und anerkannt hatte, wenn er 1829 schrieb: »Dass auch Schlesien in frühester Zeit ganz und gar slavisch war, bedarf gar keines Zweifels mehr«; und ihm, dem leidenschaftlichen Sammler von Volksliedern, gebührt das Verdienst, auch polnisches Liedgut gesammelt und herausgegeben zu haben. Gewiss ist dies ein Grund, weshalb die Beziehungen zwischen Breslau und Fallersleben heute so intensiv sind. Aber auch für jemanden wie mich, der sich viele Jahre mit der Rekonstruktion der Oder als eines Kulturraums beschäftigt und versucht hat, dies auch zu einem Forschungsschwerpunkt seiner Universität zu machen, war diese Seite des Hoffmann von Fallersleben eine wichtige Entdeckung.
    Aber so viele Berührungspunkte es auch sonst noch geben mag, die mir Hoffmann von Fallersleben nahebringen, so ist es doch ein anderer Punkt, und auf diesen möchte ich eingehen. Der Preis ist ja verliehen worden für »zeitkritische Literatur«, und eines der Themen, für das ich nun schon die längste Zeit meines Lebens gearbeitet habe, ist dies: dass die Deutschen sich dem östlichen Europa wieder zuwenden, aus dem sie herausgefallen sind, aus dem sie sich selbst herauskatapultiert haben und aus dem sie durch eine lange Nachkriegszeit, durch einen Eisernen Vorhang und durch eine Grenze, die auch durch ihr Land ging, ausgeschlossen waren. Dafür steht der Titel eines Buches, das mir programmatisch wichtig geworden ist und das 1986, wenige Jahre bevor die Mauer fiel, herausgekommen war: »Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa«. Ich zitiere diesen Titel nicht aus nostalgischen Gründen, sondern weil darin ein großes und mich tragendes Leitmotiv formuliert wird. Dieser Titel war in gewisser Weise ein Arbeitsprogramm, das ich mir nicht abstrakt vorgenommen habe, sondern das sich so »ergeben«, das sich so »gefügt« hat. Was in dem Essay »Die Mitte liegt ostwärts« ausgesprochen und intendiert war, ist durch die Ereignisse von 1989 auf eine überraschende Weise in Erfüllung gegangen: Das Verschwinden des Eisernen Vorhangs hat uns eine Welt, die uns fast so fremd geworden war wie die erdabgewandte Seite des Mondes, wieder zugänglich gemacht. Landschaften, die nur noch in vergilbten Photoalben existierten, waren plötzlich wieder in nächste Nachbarschaft gerückt, und Wege, die abgeschnitten waren, waren plötzlich wieder befahrbar. Aus Endstationen waren wieder Durchgangsstationen geworden. Europa wurde neu zusammengesetzt. Die Flucht nach Westen war irgendwie zu einem Ende gekommen. Die Sehnsuchtsorte vor allem der Nachkriegswestdeutschen, die allesamt westwärts lagen, hatten mit einem Mal Konkurrenz bekommen. Nun ging die Reise nicht mehr nur nach Paris oder New York, sondern vielleicht auch in die nähere Nachbarschaft, nach Prag, nach Breslau und nach Budapest. Am Horizont tauchten plötzlich Städte auf, die nur noch in der Literatur existiert hatten, und mit den Orten kamen die Bilder von einer Geschichte, von vielen Geschichten zurück, die sich dort ereignet hatten. Und wer hatte sich vor etwa 20 Jahren, in der Spätzeit der in Ost und West geteilten Welt, je vorstellen können, dass es so etwas geben würde: dass die Europameisterschaft im Fußball in Polen und in der Ukraine stattfinden würde und dass Tausende von Fans sich in Bewegung setzen würden: nach Danzig, nach Breslau, nach Lemberg, nach Kiew oder Charkiw – Städte, von denen Fernsehzuschauer und Fans zuvor vielleicht nur die Namen kannten, wenn überhaupt.
    Aber was hat das zu tun mit Hoffmann von

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