Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Fallersleben? Ich gehöre einer Generation an, die ihre Schwierigkeiten hatte mit dem Deutschlandlied. Es ging ihr – oder jedenfalls vielen von uns – nicht so ohne weiteres von den Lippen, und schon gar nicht kam es aus voller Kehle. Es war darin nicht nur die doppelte Anrufung »Deutschland, Deutschland über alles«, die einem nicht von den Lippen ging und von der wir längst wissen, wie es vom Verfasser und den Sängern in seiner Zeit gemeint war: nämlich für ein Deutschland jenseits und über den egoistischen Partikularinteressen der Duodezfürstentümern stehend, für die gemeinsame Sache des Volkes und der Nation gegen die beschränkten Interessen einer Vielzahl von Fürsten- und Herzogtümern. Im Schatten des Zweiten Weltkrieges geboren und im Schatten des Kalten Krieges aufgewachsen, war es für mich und wohl viele meiner Generation unsingbar geworden, zu sehr war es verdorben, zu sehr war es verknüpft mit den Siegen des Blitzkrieges, zu eng war es assoziiert mit dem, was nicht nur im Namen von Deutschen, sondern von Deutschen begangen worden war – mochten der Verfasser, der Text und vor allem die Haydnsche Melodie so unschuldig sein wie Liszts Préludes, die den Siegesmeldungen der Wehrmacht vorausgingen. Aber das betraf ja nicht nur dieses Lied, sondern alle Begriffe von Ehre, Treue, Nation, Vaterland. Und es bedurfte fast der schlafwandlerisch souveränen Haltung eines Konrad Adenauer, des von den Nazis abgesetzten Oberbürgermeisters der großen Stadt Köln, der es wagte, am 18. April 1950 im noch vom Krieg gezeichneten Titania-Palast in Westberlin die Melodie anzustimmen und den Text eines Liedes zu verteilen, das noch verboten war und doch gegen den Missbrauch in der NS -Zeit als »Lied der Deutschen« standgehalten hatte.
Ich hatte mir den Text nie wirklich zu eigen gemacht, und es wird mir, sosehr ich dies inzwischen auch analysieren und begreifen kann, bis zum Ende meiner Tage nicht mehr gelingen. Verse und Melodien sind etwas, was sich tief einsenkt und nicht durch eine bloße Denkoperation hergestellt werden kann; das beste Beispiel dafür sind ja die Hoffmannschen Kinderlieder.
Was indes noch weit mehr als »Deutschland, Deutschland über alles« missverstanden und kontaminiert worden ist, sind jene anderen zwei Zeilen, die aus ebendemselben Grund nicht mehr gesungen werden können: »Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt«. Diese Zeilen hatten von einem Staat geträumt, in dem alle Deutschen vereinigt sein sollten – auch Österreich, nicht nur die kleindeutsche Lösung eines Preußen-Deutschland also. Wie es im »Lied vom deutschen Ausländer« heißt:
Kein Oesterreich, kein Preußen mehr!
Ein einig Deutschland, groß und hehr,
Ein freies Deutschland Gott bescheer’!
»Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt« – das ist die literarische Chiffre eines großen Raumes, in dem sich Deutsche einmal vor der Katastrophe bewegt haben. Das sind literarische Grenzziehungen, semantisch vage, nicht einmal in einem geographischen Sinne genau. Sie meinen jenen Raum, in dem Deutsche, und nicht nur sie, zu jener Zeit lebten. Vom Baltischen Meer – Belt ist dafür der Name – bis südlich der Alpen – die Etsch also –, von der Ostgrenze Preußens bzw. des Deutschen Reiches, der Memel also, bis zu den Deutschen links des Rheins. Spätestens nach Königgrätz 1866 aber war die Spaltung dieses Deutschland in zwei Nationen und Nationalstaaten – die deutsche und die österreichische – endgültig und unumkehrbar geworden, wie Thomas Nipperdey in seiner großen Geschichte nachdenklich und nicht ohne Trauer bemerkt hat.
Hitler hat auch diese zwei Zeilen des Liedes der Deutschen mit in den Abgrund gerissen, und damit eine ganze Welt. Es ist eine der oft unterschätzten oder überspielten Langzeitfolgen der Nazi-Katastrophe, dass es bis auf den heutigen Tag überaus schwierig ist, über die Geschichte der Deutschen im östlichen Europa zu sprechen, eine vielhundertjährige Geschichte, die den zwölf Jahren Nazi-Herrschaft, dem Zweiten Weltkrieg und dem Untergang des alten Ostmitteleuropa vorausging, eine Geschichte, die eben nicht aufgeht in jenen zwölf Jahren, in denen alles, die Arbeit von Jahrhunderten und vielen, vielen Generationen, ruiniert worden ist. Hinter dem Verschwinden dieser beiden Zeilen steckt das Verschwinden eines ganzen Horizonts und deutet sich so etwas wie Berührungsangst an, man könne mit diesem Thema allzu schnell etwas
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