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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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Auslandspostamt tagelang, um diese Listen anzufertigen, von denen man nicht wusste, ob sie auch passieren würden. Verpackt wurden die Bücher dann im Auslandspostamt unter den Augen eines dafür zuständigen Beamten. Letztlich war alles erst überstanden, wenn man wieder außer Landes war und die Bücher eingetroffen waren, was auch nicht immer der Fall war.
    Imperium, weite Welt. Es gab nur eine Fluglinie – Aeroflot –, aber ihre Maschinen flogen in Welten, die nichts oder nur wenig miteinander zu tun hatten. Von Moskau aus war man in vier Stunden unter den Palmen von Suchumi, atmete den Ölgeruch, der über Baku lag, oder trat in das Dunkel der Kirche von Mzcheta in Georgien. Die Melonen und Pfirsiche kamen aus dem eigenen Land, genauso wie Öl, Gas, Diamanten. Die Destinationen, die die Anzeigetafeln auf den Flughäfen zeigten, oder die Städte, die auf den Fahrplänen eingezeichnet waren, umfassten alle Zonen des eurasischen Kontinents, das Procedere, nach dem alles ablief, war überall identisch: das Gedränge in der Warteschlange, die Währung, die Preise, die abweisende und unfreundliche Behandlung am Schalter. Das Sowjetische hatte sich über noch so differente Landschaften gelegt. Die Raster, nach denen die Städte angelegt waren, waren in zentralen Planungsbüros entworfen worden, und doch war der so homogen scheinende Raum disparat, zerklüftet: sprachlich, ästhetisch, atmosphärisch. In Tallinn gab es eine Schlafstadt, die auf den ersten Blick auch in Moskau oder Nabereshnye Tschelny stehen konnte, aber in Tallinn gab es gotische Kirchen, ein Rathaus und einen Marktplatz, der seit 800 Jahren fast unverändert geblieben war, in Tallinn war man im gotisch-mittelalterlichen Europa. Zwischen Moskau und Tallinn lagen die »Gotik-Grenzen«. In Armenien gab es die sowjetische Moderne, aber auch eine Aussicht auf die Ausgrabungen der Ruinen von Urartu, die mehrere 1000 Jahre alt waren und ins Zweistromland verwiesen. So konnte man als Sowjetbürger in einem Staat und doch in ganz verschiedenen Welten leben. Das Land war so groß, dass man selbst die Große Grenze vergessen konnte. Man brauchte keinen Pass, um sich über ganz Eurasien hinweg fortbewegen zu können.
    DDR -Buchhandlungen. Westdeutsche Touristen, unterwegs im Ostblock, waren reich, sie hatten ganz unverdient den DM -Vorteil. Sie aßen in Restaurants in Budapest, in die sie sich zu Hause in München oder Köln nicht getraut hätten. Die D-Mark machte es möglich, sich in luxurösen Interieurs niederzulassen, sich von einem Ballett von Kellnern bedienen zu lassen und eine Zigeunermusik-Kapelle zu bestellen. Den meisten war diese Verschiebung der Proportionen, nehme ich an, peinlich. Studenten mit ihrem wenigen Geld versuchten dies in der Regel in Büchern anzulegen. Bücher waren im ganzen Ostblock weitaus billiger als im Westen, und so endete fast jede Fahrt eines westdeutschen Studenten nach Prag in der Buchhandlung auf dem Graben, in Moskau in der Buchhandlung Drushba auf der Gorkistraße oder auf dem Kreschtschatik in Kiew. Auch in den Hauptstädten der Republiken waren die DDR -Verlage präsent. Es gab dort die »blauen Bände« der Marx-Engels-Werke, für die es nach 1968 eine starke Nachfrage gab, die schön gemachten roten Bände mit marxistischen Klassikern wie Plechanow, einige kauften sogar die dreibändige Auswahl aus Lenins Werken. Aber es gab auch anderes, was man in Westdeutschland und Westberlin nicht oder nur schwer bekommen konnte. Die gesamte Klassik und die Moderne in den Ausgaben der besten DDR -Verlage, Exemplare einer hochentwickelten Buchkunst, Kunstbände – ich erinnere mich an das großartige Werk Chan-Magomedows zur sowjetischen Architektur der 1920er Jahre, publiziert im VEB Verlag der Kunst Dresden oder an Larissa Shadowas Arbeiten zu Malewitsch. Die DDR –Buchhandlungen waren, so meine Erinnerung, immer gut besucht, die Leute deckten sich ein. So gab es einen ununterbrochenen Bücher-, und das heißt auch: Ideentransfer, einen nie abreißenden Büchertransport und Transfer von Buchkultur. Dazu gehörten auch die Bach-, Schubert- und Mozart-Noten aus der Edition Peters oder von VEB Breitkopf & Härtel Musikverlag, Leipzig – Noten, die im Westen fast unbezahlbar waren. Diese Buchhandlungen hatten noch einen anderen Effekt: Man begriff in Tiflis oder Kiew oder Riga, dass es eine deutsche Kultur gab, der die Teilung der Welt und der Kalte Krieg nichts hatten anhaben können, und dass die querelles allemandes im

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