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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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größeren Zusammenhang eigentlich unerheblich waren.
    Orientexpress, Autoput. Der Autoput führte nicht in den Osten, sondern in den Südosten, auf den Balkan, von München über Villach und Klagenfurt, über Ljubljana und Belgrad, Skopje nach Thessaloniki oder nach Istanbul. Alle Jahre, wenn die Betriebsferien bei Ford in Köln begannen oder die Schulferien in Baden-Württemberg, setzte sich eine ungeheure Blechlawine in Bewegung. Türken, Jugoslawen, Griechen, eine moderne Völkerwanderung. In den Jahren zuvor war das Hauptmedium dieser Bewegung der Zug, vor allem der Orientexpress, der ganz und gar nichts von der Exotik des legendären Luxuszuges an sich hatte. Ermüdetes Volk mit schweren Koffern, den Ferien in der Heimat entgegensehend, fast ausschließlich Männer, in Anzüge gesteckt, die ihnen nicht ganz zu passen schienen. An jedem großen Bahnhof stiegen Leute zu, und in jedem Waggon bildeten sich Mini-Gesellschaften aus Serben, Kroaten (die fuhren aber meistens mit dem D-Zug nach Rijeka), Bosniern, Mazedoniern, Albanern, Türken, Kurden, Griechen. Man sprang heraus, wenn der Zug hielt, und holte sich frisches Wasser, Obst, etwas zu essen. Später waren auf dem Autoput eher ganze Familien unterwegs, die Autos vollgepackt bis über das Dach. Tausende sind auf dieser Autostraße gestrandet, Hunderte vermutlich bei Unfällen ums Leben gekommen. Eine via dolorosa . Sie verband den Westen mit dem Balkan und dem Südosten, aber sie führte vor allem durch Länder, durch die man sonst nicht gekommen wäre: Jugoslawien, Bulgarien, auch Rumänien. Jugoslawien war ein anderer Osten, einer, der eigentlich nicht dazugehörte und in den man einreisen konnte mit einem gewöhnlichen Pass, in den an der Grenze ganz unbürokratisch und schnell ein Visum eingestempelt wurde. In Jugoslawien gab es westliche Autos, Illustrierte an den Zeitungskiosken, modernen Service. Jugoslawien war der Dritte Ort in dem ansonsten in ein Entweder/Oder geteilten Europa. Es ist heute fast vergessen, dass es jenseits von Ost-West diesen Dritten Ort gab, erfahrbar, eine interessante Realität. Die Wiederherstellung des Autoput nach den Jugoslawienkriegen und die Verwandlung des alten Orientexpress in einen Hightech-Express wären nützlicher als viele Debatten um das erweiterte Europa.
    Prag 1968. Gestohlene Lebenszeit. Ich habe den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in der Stadt selbst nicht mehr miterlebt. Mein Visum war zwei Tage vor dem 21.August abgelaufen, und ich musste das Land verlassen. Aber es war schon klar, dass etwas geschehen würde. Die Leute saßen jeden Abend vor dem Fernseher, wo über die Truppenbewegungen bei den Manövern berichtet und westliche Geheimdienstanalysen zitiert wurden. Aber die Wochen davor waren so etwas wie das vorweggenommene Ende des Kalten Krieges vor seinem wirklichen Ende 20 Jahre später. Die Perestroika war ein großes Déjà-vu. Aber dazwischen lagen 20 Jahre, gestohlene Lebenszeit einer ganzen Generation. Man traute seinen Augen nicht, dass Menschen in aller Offenheit, im Radio, im Fernsehen zu sprechen begannen, sich selbständig artikulierten und die Formelsprache sprengten. Frische Worte, unerhörte Gedanken, lange Verbotenes, das nun in den Zeitungen zu lesen war, die Rückkehr von Unpersonen in den öffentlichen Raum und ins allgemeine Gedächtnis, es war ein phantastischer, alles belebender Zustand. Die Stadt füllte sich mit ausländischen Touristen. Prag war wieder zur Hauptstadt in der Mitte Europas geworden. Selbst das Laub der Bäume auf dem Wenzelsplatz wusste, dass etwas Unerhörtes in Gang gekommen war: Es fieberte mit, es vibrierte hörbar. Prag begann wieder zu leuchten. Ich ging in dieser Augustnacht über die tschechoslowakisch-österreichische Grenze auf der Straße von Budweis nach Linz. Es war gegen Mitternacht, kurz vor Ablauf des Visums. Der Grenzsoldat trug meinen Koffer, der schwer war von Büchern. Wir verabschiedeten uns mit Handschlag. Auf der österreichischen Seite war es vollständig dunkel, aber in einem Wirtshaus fand sich noch eine Kammer zum Übernachten.
    (2009)

Um das Deutschlandlied
    »Was für ein schöner Sonntag«, möchte man wie Joachim Gauck nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten ausrufen, auch wenn der heutige Sonntag auf einen 17. Juni fällt, auf ein Datum also, das einmal nationaler Feier- und Gedenktag war, bevor er nach glücklicher Wiedervereinigung schnell, ja vorschnell wieder abgeschafft und durch einen anderen Tag ersetzt wurde. Vielleicht

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