Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
falsch machen oder allzu leicht missverstanden werden. Aber wie bringt man ein großes Thema heraus aus dem Sog der furchtbaren Nazi-Geschichte, und wie sollte man angesichts des Untergangs des alten östlichen Europa, der Vernichtung der Zentren des europäischen Judentums und des Verschwindens der Deutschen aus dem östlichen Europa nach 1945 vom Glanz, der Schönheit und den Leistungen der Deutschen, die dort zuvor gelebt und gearbeitet hatten, sprechen können? Wie sollte man im Schatten der monströsen Verbrechen, die von Deutschen im östlichen Europa begangen worden waren, von Verbrechen sprechen, denen sie selbst am Ende auch zum Opfer gefallen waren? Wie sollte man die Erinnerung an einen ungeheuren Verlust wachhalten, ohne neue Konflikte und Feindschaften unter den heute Lebenden heraufzurufen? Wie sollte man von den eigenen Opfern sprechen, ohne in Wehleidigkeit zu verfallen oder gar den Verdacht auf sich zu ziehen, die geschichtlichen Kausalitäten von Ursache und Wirkung in Frage oder auf den Kopf zu stellen? Man könnte die Reihe dieser Fragen ohne Schwierigkeit fortsetzen. Im Kern geht es immer um dasselbe Problem: Wie werden die Deutschen, alle Deutschen, nicht nur die Vertriebenen, mit einem Verlust fertig, der die ganze geistige Ökonomie Deutschlands nach 1945 aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, und dies, ohne in Nostalgie oder Revanchegedanken zu verfallen? Wie sollte die Gratwanderung zwischen der Anerkennung des endgültig Verlorenen und einer lebendigen Erinnerung an ein großes kulturelles Erbe aussehen? Diesen Weg zu beschreiten war schwierig, riskant, denn er war gleichsam vermint und verlief zwischen den Fronten. Die Welt des Kalten Krieges, auch in seiner Spätzeit, war eine Welt der ideologischen Lager, der Verdächtigung, der Unterstellung mangelnder Loyalität und mangelnder Identifikation – auf beiden Seiten. Sich den Spielregeln und Sprachregelungen des west-östlichen Lagerdenkens zu entziehen war unendlich kraftraubend und verlangte nicht selten Mut. Man musste lange warten, bis sich alle Verspanntheiten auflösten – wie in jenem annus mirabilis 1989.
Meine Begegnung mit der Welt des östlichen Europa begann früh, lange bevor ich zum ersten Mal dort war, auch schon bevor ich Russisch lernen konnte an einem bayerischen Gymnasium bei einem » DP «, einem Flüchtling, der nicht zurückwollte in Stalins Reich. Wie überall in Deutschland waren in unserem Dorf im Allgäu Hunderte aus den Gebieten, die dann »Gebiete östlich von Oder und Neiße« hießen, gestrandet, einige von ihnen waren auf unserem Hof einquartiert, so dass wir Kinder mit ihnen aufwuchsen: mit der Familie aus Breslau, die bald wieder fortzog, weil es für die hochqualifizierten Städter auf dem Dorf keine Arbeit gab, mit einer Familie aus dem Egerland, einem wahrlich böhmischen Musikanten und einer älteren Dame aus dem Mährischen, die in Wien Köchin gewesen war und kulinarische Dinge zu zaubern verstand, die sich im Dorf niemand auch nur vorstellen konnte. Das waren sie also: einige wenige von den über zwölf Millionen, die alles verloren hatten – Haus, Hof, Heimat – und die ganz von vorn anfangen mussten. Aber sie hatten ihre Bilder im Kopf, von Marktplätzen aus Städten, von Friedhöfen, von Hochzeiten, die gefeiert worden waren, von Landschaften, die einen ganz eigenen Zauber verströmten. Doch diese Bilder verblassten je länger, desto mehr, die verlorene Welt war unzugänglich geworden, und es war fast unmöglich, jenen, die keine Ahnung davon hatten, mitzuteilen, was da verlorengegangen war. Eine tiefe Kluft zwischen Wissenden und Nichtwissenden, Fremden im eigenen Land und Einheimischen. Wir wissen im Nachhinein, dass alles auf unvorhersehbare Weise gutgegangen ist: die Integration von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen, eine demographische Revolution, die mit beispiellosen territorialen Verschiebungen einhergegangen war – die Deutschen in Ost und West haben sie nicht nur bewältigt, sondern – im Westen wenigstens – ein Wirtschaftswunder daraus gemacht.
Aber es blieb jene innere Grenze, die man den Menschen jedoch nicht ansehen konnte. Man kann nicht sagen, dass es ein Tabu gab – im Gegenteil: die Sache der Vertriebenen war wohl vertreten in allen Regierungen, sie bewahrten ihre landsmannschaftlichen Zusammenhänge, pflegten ihre Beziehungen und Bräuche, fanden offizielle Anteilnahme und finanzielle Unterstützung; mit ihrem Wissen, ihren Erinnerungen blieben sie indes
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