Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
ist es Zufall, dass die Verleihung des »Hoffmann-von-Fallersleben-Preises für zeitkritische Literatur« in diesem Jahr auf den 17. Juni fällt; da ich aber die Umsicht und Gewissenhaftigkeit der Stifter und Organisatoren dieser Preisverleihung kenne, nehme ich eher an, dass es nicht bloß einer Lücke im Terminkalender zu verdanken ist. Der Zusammenhang zwischen dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 in Ostberlin und anderen Städten der DDR und jener Zeile aus dem Deutschlandlied, die auch jenen geläufig ist, die den Text sonst nicht kennen – »Einigkeit und Recht und Freiheit / Für das deutsche Vaterland!« –, ist ja nicht konstruiert, nicht ausgedacht.
Es gehört zu den schönen Verpflichtungen solcher Ehrungen, dass sie jene, die von ihnen ereilt und überrascht werden, dazu veranlassen, sich näher bekanntzumachen mit »Leben und Werk« des Namensgebers. Das bedeutet, für einen Augenblick herauszutreten aus den vertrauten Bahnen dessen, was man ohnehin schon kennt oder was zur eigenen Disziplin gehört, auf ein Feld, auf dem man nicht oder weit weniger zu Hause ist. Ich bin Osteuropahistoriker, kein Germanist, kein Literaturhistoriker und schon gar kein Spezialist für Hoffmann von Fallersleben. Bei der Vorbereitung auf diesen Tag habe ich mir natürlich die Reden der vorangegangenen Preisverleihungen angesehen und war überrascht, wie vielseitig, ja in vielen Farben schillernd dieser Hoffmann von Fallersleben war, so dass ein jeder der vor mir Ausgezeichneten einen neuen, bisher kaum bemerkten Aspekt herausgearbeitet hat. Jeder hat aus seinem vielstimmigen Werk etwas anderes herausgehört oder hineingelesen. Auf diese Weise ist in Gestalt der Preis- und Dankreden fast schon ein neues Genre entstanden. Jeder macht einen neuen Anlauf, geht um diese Gestalt herum, blickt auf das Monument und versucht sich seinen Reim zu machen – genau lesend, kritisch, sarkastisch, anerkennend, nicht selten auch irritiert angesichts eines so paradoxen, manchmal auch idiosynkratischen Charakters, der oft als »schwierig« beschrieben wurde und der es einem nicht leicht macht.
Ich habe mich daher zum ersten Mal genauer mit der Vita des Ruhelosen beschäftigt. Ich bin dabei natürlich nicht zum Fallersleben-Experten geworden, das werde ich auch in Zukunft anderen überlassen. Aber ich machte eine Entdeckung: Ich kannte Hoffmann von Fallersleben, lange bevor ich wusste, dass es ihn gab und wer er war. Denn ich kannte seine Lieder, ich bin mit ihnen wie viele andere aufgewachsen: »Alle Vögel sind schon da«, »Kuckuck Kuckuck ruft’s aus dem Wald«, »Summ, summ, summ«, »Ein Männlein steht im Walde«, »Winter, ade!«, »Morgen kommt der Weihnachtsmann«. Und ich kannte das Deutschlandlied schon lange, bevor ich den Autor des »Liedes der Deutschen« kannte.
Auch wenn es ein Gemeinplatz ist, so bleibt es doch wahr: Es gibt wenige Lieder, die bei so verschiedenen Anlässen von so verschiedenen Leute gesungen werden wie ebendieses »Lied der Deutschen« – ob bei Staatsempfängen oder anderen Ritualen der Macht oder bei eher ausgelassenen und heiteren Gelegenheiten, wie es der Sieg der Fußballnationalmannschaft in einem Stadion ist. Wir sind, wenn ich das so sagen darf, Sänger seiner Lieder, auch wenn wir es nicht gewusst haben, und wir haben sie im Ohr auch dann, wenn wir zögern sie mitzusingen. Oder wir zögern einzustimmen, weil wir glauben, gute Gründe dafür zu haben – und sei es nur der, dass wir auch den auf die dritte Strophe reduzierten Text nicht auswendig wissen.
Die Geschichte dieses Liedes und seiner Rezeption ist gut erforscht. Ruth Klüger hat von ihm als einem »Palimpsest unserer nationalen Identität« gesprochen. Vielfach gebrochen und doch irgendwie unverwüstlich ist es seit seiner Erfindung auf der damals zu England gehörenden Insel Helgoland im August 1841 auf uns gekommen – von Vormärz, 1848er Revolution, Reichsgründung über Weimarer Republik, wo sie unter Reichspräsident Ebert 1922 zur Nationalhymne wurde, über den Hitler-Staat, in dem, auf die erste Strophe folgend, das Horst-Wessel-Lied gesungen wurde, über zwei Weltkriege hinweg bis zum geteilten und wiedervereinigten Deutschland – es war, wie Eberhard Rohse schrieb, das vaterländisch-demokratische Sehnsuchts-, Bekenntnis- oder Oppositionslied, der soldatisch-nationale oder gar imperialistisch-chauvinistische Kampfgesang, die republikanische, nationalsozialistische oder demokratisch-bundesrepublikanische National- und
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