Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
bedeutet, als Motor bei der Entfaltung von bürgerschaftlichen Aktivitäten, Zusammenschlüssen, Vereinigungen und Vereinen zu sein. Wir sind hier ganz nahe dran an der Geburt der bürgerlichen Gesellschaft oder, wie man heute meistens sagt: der Zivilgesellschaft, die eben nicht nur aus Unternehmern und Fabrikanten und Honoratioren, sondern aus Abertausenden von Aktiven und Aktivisten in Vereinen besteht, besonders in Deutschland. Seine unpolitischen Lieder sind in gewisser Weise der Sound dieser mächtigen molekularen Formation, die sich nicht zuerst im Barrikadenkampf zeigt, sondern eher im Vereinslokal und im Wirtshaus, ohne die es die gesellschaftliche Bewegung aber nicht gäbe. Man könnte Heinrich von Fallerslebens Reiserouten nachzeichnen, und heraus kämen die Trajekte dissidentischer Bewegungen, heraus käme das Itinerar eines Verbannten und Flüchtlings, eines Unentwegten, und es ist kein Zufall, dass unter seinen Bekanntschaften auch ein Karl Baedeker war – er brachte ihn 1843 bei einer seiner Rheinreisen in Koblenz mit Ferdinand Freiligrath zusammen. Mühelos ließe sich mit der Methode Baedeker die Topographie des Vormärz rekonstruieren, seiner Zentren, seiner Hinterzimmer und Druckerpressen und der Routen, auf denen die verbotenen Schriften geschmuggelt wurden. Wenn man sich seine Lieder hinzudenkt, dann entsteht gleichsam die Tonspur, die uns in den Raum hineinführt, in dem die bürgerliche Gesellschaft Gestalt annimmt. Hoffmann von Fallerslebens Routen zeichnen gleichsam die Umrisse der imagined community , als die die Nation in Roger Brubackers vielzitiertem Buch definiert ist. Und die Lieder – von »Ein Männlein steht im Walde« bis zum »Lied der Deutschen« – bilden den Soundtrack zu dieser turbulenten Geschichte: der Vormärz als soundscape , wie das auf Neudeutsch heißen würde, und es kommt gewiss einmal die Zeit, wo ein Musiker in die Reihe der mit dem Hoffmann-von-Fallersleben-Preis zu Ehrenden aufrückt und uns dazu Erhellendes sagen wird: zur Verfertigung von Gemeinschaften und Nationen, der imagined community also, durch Gesang, über Musik.
Ich komme auf die phänomenale Mobilität und Topographie der Reisen von Hoffmann von Fallersleben, nicht weil ich selber viel reise und Reisen für eine avancierte Form des Lernens und Forschens halte oder weil ich denke, dass wir eine Überautorität wie Hoffmann von Fallersleben bräuchten, die uns sagt, was wir tun sollen, was wir selber aber nicht mit genügend starken Argumenten begründen können, sondern es ist eher die Beobachtung dessen, was unter unseren Augen abläuft und was mich an die von Hoffmann von Fallersleben zu seiner Zeit mitbetriebene Gemeinschaftsbildung denken lässt. Der 17. Juni, der heutige Sonntag, ist nicht nur der Tag, an dem wir an die Revolte von 1953 denken, sondern der Tag in einer Gegenwart, in der wir all unsere Geistesgegenwart und Gelassenheit zusammennehmen müssen: Wahlen in Griechenland, Wahlen in Frankreich, Wahlen in Ägypten, Symptome oder gar schicksalhafte Weichenstellungen für tektonische Verschiebungen. Es gibt die »Krise Europas«, und wie alle Krisen legt sie etwas offen, was unhaltbar und spruchreif geworden ist. Krisen haben Desillusionierungs- und Aufklärungspotential, und aus der Krisis geht man in der Regel gestärkt hervor, wenn sie einen nicht überwältigt. Es ist, wie alle empfinden, sehr ernst, aber man soll auch nicht in Hysterie und Panik verfallen. Die Eurozone ist nicht identisch mit der Europäischen Union, und die Europäische Union ist nicht identisch mit Europa. Europa braucht Brüssel und die Europäische Zentralbank und das Parlament, aber nicht alle Wege führen nach und über Brüssel, Frankfurt oder Straßburg, nicht einmal immer über die europäischen Hauptstädte. Und doch hält Europa irgendwie zusammen, nicht dank guter Absichten und politischer Proklamationen, sondern dank funktionierender Routinen, eingespielter Praktiken, einer Arbeit, die Tag für Tag, jahraus, jahrein, ganz unspektakulär getan wird. Dieses Europa hat die Grenzen der Kleinstaaterei hinter sich gelassen und kann sich eine Rückkehr zu Passkontrollen – abgesehen von security und body checks – schon gar nicht mehr vorstellen. Die Leute sind vielleicht keine Romantiker, aber sie nehmen die Billigfliegerverbindungen und den TGV ans Mittelmeer selbstverständlich in Anspruch. Es sind nicht nur die Berufseuropäer, die den Kontinent einigen, sondern die Spediteure, die transnationalen
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