Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Wissenschaftsgeschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts Auskunft geben.
Unbestritten ist freilich, dass der Rede von der Übergangsgesellschaft, vom Übergang, von Transition und Transformation ein eigentümlicher Zug inhärent ist. Die Rede vom Übergang suggeriert, dass wir es bei den Erscheinungen der Gegenwart eigentlich mit Erscheinungen minderer Qualität zu tun haben. Erfahrungen und Wirklichkeit sind gleichsam in eine Klammer gerückt. Die Gegenwart, die Wirklichkeit steht gleichsam unter Rechtfertigungszwang. Sie ist nur von Belang, sofern sie eine Rückständigkeit oder eben die Überwindung dieser Rückständigkeit anzeigt. Die Erscheinungen der Gegenwart sind allesamt dazu verurteilt, vorübergehend zu sein, ersetzt und abgelöst zu werden von etwas anderem, Zukünftigem. In »starken« Übergangstheorien wird sogar von einer Richtung oder Gerichtetheit, vielleicht sogar von einer Machbarkeit von Geschichte und Gesellschaft ausgegangen, von einer Logik, die dem Prozess innewohne. In der sogenannten »Transitologie« wird der Schritt zu einer »Logik des Transformationsprozesses« nahegelegt. Mit anderen Worten, sie hat einen unübersehbaren und kräftigen teleologischen Zug. Nicht von ungefähr ist sie die Hauswissenschaft der Politikberatung und von allerlei Consulting-Firmen, die angeblich wissen – heute muss man sagen: die angeblich wussten –, wohin die Reise gehen sollte. Transitologie ist konstitutionell desinteressiert an der Gegenwart, sie gewinnt ihre (falschen) Sicherheiten aus normativen Annahmen über das, was war, und das, was werden soll: vom Sozialismus zum Kapitalismus, von der Diktatur zur Demokratie, vom Staats- zum Privateigentum, vom Plan zum Markt usf. Sie hat einen Blick für reine und polare Formen, Idealtypen, Modelle. Das große Problem jeder Analyse, eine Sprache für die Gegenwart, also Ernst Blochs »Dunkel des gelebten Augenblicks« zu finden, ist nicht ihr Problem. Sie fühlt sich zuständig nicht für die Welt der Erscheinungen, sondern für das Wesen der Welt, manchmal sogar für deren Gesetze und Logik. Die Erscheinungen sind das, was bleibt zwischen Ausgangs- und Zielpunkt. Anstatt die Aufmerksamkeit für die Phänomene zu schärfen, wird sie mit Verweis auf deren transitorischen Charakter entwertet, gemindert. Bilder der Wirklichkeit werden so zu einem Rest, eingezwängt zwischen zwei Polen: diffus, grau, unscharf, auch unsauber.
Es muss mit dieser Konstitution von Theoriebildung, von Modellbildnerei, zu tun haben – und auch mit der Konstitution der Theoretiker –, wenn die Wirklichkeit des mittleren und östlichen Europa, die jeden ansprang, der sich dort aufhielt, nicht vorkommt. In diesen Analysen war kein Platz für den rapiden Wandel im Äußeren der Städte. Es gab darin nicht jene ewig jungen Ex-Komsolführer, die sich als Unternehmer neuen Typs profilierten. Im Modell gab es keinen Platz für die Riesenbasare, die zum Teil in den großen Städten, meist aber außerhalb der Städte, auf der grünen Wiese, sich gebildet hatten. Die Bewegung der Hunderttausenden von Shoppingtouristen, die zwischen Kiew und Istanbul, zwischen Riga und Stockholm, zwischen Tallinn und Helsinki, zwischen dem russischen Fernen Osten und Japan pendelten – die Ameisenhändler waren im Modell nicht vorgesehen. Eigentlich reagierte die Akademia auf diese Erscheinungen erst, als diese bereits im Begriffe waren, wieder zu verschwinden, und den »normalen Formen« von Handel und Geschäft gewichen waren. Es geht hier nicht um den Vorwurf mangelnder Anschaulichkeit, dass es der Wissenschaft hier am nötigen Kolorit fehle, oder um die unterentwickelte Fähigkeit, sich »verständlich« auszudrücken, sondern es geht um den Ausschluss der Wirklichkeit selbst – nicht mehr und nicht weniger.
Wer sich ein Bild von den 1990er Jahren machen möchte, wird in der Bibliotheken füllenden Literatur der Transformationsforschung wenig Bilder finden. Sie war zu schwerfällig, ja immobil, um auf die unvermuteten und überraschenden Bewegungen reagieren zu können. Sie klebte zu sehr an den Statistiken, die doch die doppelte Wirklichkeit gar nicht mehr abbildeten. Sie schrieb ihre Bücher auf der Grundlage von Büchern, die aus einer Vorzeit stammten, in der die neuen Tatsachen und Formen noch nicht einmal spruchreif gewesen waren. Anstatt hinauszugehen in die rasend sich verändernde Welt, anstatt den Fuß auf das Terrain zu setzen, in dem sich dies alles abspielte, klammerte die Forschung sich
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