Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
an die alten Wissensbestände. In einer Zeit, in der eine ganze Staatenwelt sich auflöste, Gesellschaften aus den Fugen gingen und Lebensformen sich auflösen, scheute sie das Risiko, das man eingehen muss, wenn ein neuer Kontinent zu entdecken ist. Die Transitionsforschung hielt sich eher an bewährte Rezepte als an ein »Denken ohne Geländer«. Sie war auf den Umsturz der Welt nicht vorbereitet: Sie kannte zwar die Akteure der Welt von gestern, die Direktoren der Institute und Akademien, die Verhandlungsführer der internationalen Konferenzen und Kommissionen, nicht jedoch jene, die, aus dem Nichts aufgetaucht, von nun an die Spielregeln definierten. Die etablierte Forschung, die immer schon einen Horror vor allem hatte, was nicht dazugehört, empfand einen regelrechten Ekel vor der neuen Wirklichkeit. Sie trieb sich lieber wie bisher auf den internationalen Konferenzen herum, wo jeder jeden kennt, anstatt hinauszugehen in eine Wirklichkeit, die noch der Erkundung und Aufklärung bedurfte. Wie sehr entsinne ich mich der Gespräche mit Experten der Transitionsforschung, die es seltsam fanden, wenn sich jemand auf den Basaren oder Grenzübergängen des neuen Europa umsah. Sie fanden Berichte aus dieser Wirklichkeit immerhin »interessant« und »exotisch«.
Die Wirklichkeit überließ man den Journalisten. Sie waren die schnelle Truppe, die task force der Wirklichkeitssichtung und Wirklichkeitssicherung. Die Kameras der Fernsehteams vor Ort fingen die Bilder ein, die ein Ende besiegelt oder einen Neuanfang irreversibel markiert hatten. Die Mikrophone hielten den neuen Tonfall fest, in dem fortan über die Welt gesprochen wurde. Man hielt sich als gewöhnlicher Fernsehzuschauer auf dem Laufenden, während man für sich, epistemologisch, Konsequenzen zu ziehen nicht bereit war.
Zeitmessungen, Ortsbesichtigungen
Eine Analytik, die sich auf die Wirklichkeit einlässt, hat ihre Untersuchungsfelder, ihre Anlaufstellen, ihre Messpunkte. Man kann sie in regelmäßigen Abständen und in einer bestimmen Abfolge aufsuchen, und man findet dann etwas heraus über Tempi, Durchschlagskraft, Oberflächlichkeit von sozialen Umwälzungen. Man kann sich vertraut machen mit der histoire événementielle und der longue durée . Man kann in solchen Langzeitbeobachtungen seinen Blick schärfen und Urteilskraft gewinnen. Bilder und Eindrücke sind wesentlich, nicht bloß »Impressionismus«. Wenn Moskau seine Skyline fast in halbjährlichem Rhythmus ändert, dann sagt dies etwas über den Druck von Investitionen auf die russische Hauptstadt. Wenn Petersburg noch immer darauf wartet, wieder in Fahrt zu kommen, wie ein Tanker, der auf der Sandbank der Zeit gestrandet ist, dann besagt dies etwas über die Kräfte, die nötig sein werden, um die Hauptstadt des Russischen Reiches wieder in Form zu bringen. Und wenn man in Nischni Nowgorod eine eindrucksvolle Bautätigkeit vorfindet, die ganz spezifische lokale Bauformen wieder aufnimmt, dann besagt dies etwas über den Grad der Selbständigkeit von Städten draußen in der »Provinz«, die sich aus der Fixierung auf die Hauptstadt gelöst und zu sich selber zurückgefunden haben.
Fast überall sind es die nämlichen Indikatoren, aus denen man seine Schlüsse zieht. Das Auge hält sich an das, was man »auf den ersten Blick« zu sehen bekommt. Wie sich ein Stadtbild seit dem letzten Besuch verändert hat, ob eine Stadt städtischer oder provinzieller geworden ist, wie sich die Menschen kleiden und bewegen. Alle Details sind bedeutsam: der Inseratenteil der Zeitungen, besonders die Immobilienanzeigen, welche Filme in den Kinos gezeigt werden, das Tempo, mit dem man im Supermarkt abgefertigt wird, der Zustand der Bahnhofshalle und die Routiniertheit, mit der das Ticket ausgestellt wird. Untrügliche Indikatoren, wohin die Entwicklung geht, sind die Prozeduren beim Grenzübertritt, die Schnelligkeit und Höflichkeit, mit der man an der Rezeption eines Hotels bedient wird. Um den Zustand einer Stadt beurteilen zu können, kann die Zahl von Straßencafés aufschlussreich sein. Wenn die Basare und Kioske aus der Innenstadt verschwunden sind, dann ist das ein Zeichen dafür, dass sich das Wirtschaftsleben normalisiert hat, und wenn nicht mehr so viele Leute in Trainingsanzügen und Reebok-Schuhen herumlaufen, dann kann das besagen, dass die ursprüngliche Akkumulation abgeschlossen und eine neue Runde in Selbstbewusstsein und Selbstdarstellung eröffnet ist. Der Zustand an Bahnhöfen sagt etwas
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