Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Buslinien, die Erasmus-Studenten, die Pendler, die zwischen Kattowitz und Manchester, zwischen Bukarest und Bergamo unterwegs sind. Heinrich Hoffmann von Fallersleben hätte seine Freude an diesen un- und vorpolitischen Bewegungen, an denen doch alles weitere hängt; er würde sich ihnen anschließen, er wäre wahrscheinlich überall, wo etwas los ist, bald hier, bald dort – auf dem Rynek in Krakau, wo Kulturhauptstadt gefeiert wird, bei den Protestierern vor dem Hauptbahnhof in Stuttgart oder auf dem Majdan-Platz in Kiew. Er wäre wie immer auf der Suche nach dem verschwundenen Lied, den Melodien hinterher, die er dem Volk ablauscht. Er kennt natürlich die offiziellen Hymnen Europas – die »Ode an die Freude« von Schiller und Beethoven, die Feuerwerksmusik von Georg Friedrich Händel –, aber in Wahrheit sucht er, wie auch früher schon, nach dem ultimativen Sound, der zum neuen Europa passt, der sich freilich nicht einfach verordnen oder bestellen lässt. Er würde sogar den kurzen Weg an die nächtlich erleuchtete Promenade an der Bay von Baku zurücklegen, nur um beim Eurovision Song Contest im Crystal Palace dabei zu sein und herauszufinden, ob sich die Melodie des neuen Europa schon eingestellt hat. Wem ein so schönes Lied wie das »Lied der Deutschen« gelungen ist, dem wäre auch ein Lied der Europäer zuzutrauen. Aber das braucht seine Zeit, und noch ist es nicht so weit.
(2012)
Bilder einer Ausstellung
Prospekt für ein Museum
der Transformationsperiode
Das mittlere und östliche Europa nach 1989 war der Hauptschauplatz dessen, was man im Wissenschaftsjargon Übergangs- oder Transformationsperiode zu nennen sich angewöhnt hat. Mit nicht geringem personellen und finanziellen Aufwand ist ein regelrechter Forschungszweig neu etabliert worden. Transformationsstudien, studies in transition , Transitologie waren Boom-Sparten der 1990er Jahre. Aber wenn wir uns ein Bild von dieser turbulenten Zeit, die Europa verändert hat, machen wollen, dann wären wir verloren, wenn wir uns auf die Arbeiten der Transformationsforschung verlassen würden. Ihre Aufgabe war es, den Überblick zu behalten über die fast spontan-naturwüchsigen und chaotischen Vorgänge der 1980er und 1990er Jahre, die in das Auseinanderfallen der Sowjetunion, in den Kollaps des sozialistischen Systems und in das Verschwinden des ehemaligen Ostblocks mündeten. Sie sollten als Experten in Ökonomie, Soziologie, Politik gewisse Hauptlinien, »Entwicklungspfade« herauspräparieren und den politischen Eliten mit ihrer Expertise zur Seite stehen, Kommentare liefern und Entscheidungen begründen. Ihre Arbeit kreiste um die großen Fragen »beschleunigten gesellschaftlichen Wandels«: Entstaatung der Volkswirtschaft, Privatisierung von Eigentum, Aufbau von Institutionen der Selbstverwaltung, Entwicklung von politischen Strukturen, Entstehung von Parteien usf. Was diese Studien und Forschungen an Erkenntnis und praktisch relevanten Handreichungen »gebracht« haben, ist umstritten. Das systembezogene Denken hat sich mit den Phänomenen der osteuropäischen Wirklichkeit immer schwergetan, und es ist kein Wunder, dass es gänzlich vom Kollaps »des Systems« überrumpelt worden ist. Zu einer tiefgehenden Krise und Selbstreflexion der Systemforschung und Sozialismusanalyse ist es nach 1989 entgegen manchen Ankündigungen nicht wirklich gekommen. Die Systemdenker waren denkbar schlecht gerüstet, und mancherorts konnte man nach dem Ende der Systeme fast so etwas wie Phantomschmerzen und Entzugserscheinungen beobachten. Einer hochgerüsteten und hochdotierten Wissenschaft war der Feind, der so wohl vertraute Feind, abhanden gekommen. Die Systemkritik kam in der Regel ohne konkrete Orte und Ortsangaben aus, jetzt aber waren konkrete Orte und Räume wieder da. Systeme wurden in Modelle gefasst, in denen es eigentlich keine Zeit gab. Nun aber war die Zeit wieder losgelassen, und die Zeiten stießen heftig aufeinander. Die retrospektiven Einschätzungen darüber, welchen Einfluss theoretische Modelle für die »Steuerung des Transformationsprozesses« gehabt haben könnten, gehen weit auseinander. Sie reichen von der Vorstellung, die Modelle seien ausschlaggebend gewesen für Tempo, Erfolg oder Misserfolg, bis zu der These, dass es sich im Grunde um nicht mehr als ein Ornament des akademischen Betriebes, eine weitere Schleife der Selbstreferentialität, eine Arabeske im Diskurs der Zeiten gehandelt habe. Darüber wird uns eines Tages eine
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