Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
weitgehend unter sich und gerieten je länger, desto mehr an den Rand, obwohl die kulturelle Aneignung der verlorenen Welt Sache eigentlich aller, also der ganzen Nation gewesen wäre.
Und hier setzt jener Mechanismus ein, von dem ich zu sprechen suchte. »Von der Maas bis an die Memel« – das war kontaminiert, das war assoziiert, das war nicht der romantische Traum der Deutschen aus dem Vormärz, sondern wurde gleichgesetzt mit Hitlers Großdeutschland, den Vorstößen der Wehrmacht, der verbrannten Erde, dem Wüten der Einsatzkommandos, mit Volk ohne Raum und dem Judenmord. Jene zwei Verszeilen aus dem Verkehr zu ziehen war nach all dem, was geschehen war, unausweichlich, wer wollte das bestreiten. Aber kulturell und mittelbar war dies auch das Signum des Schweigens, des Vergessens, des Verlierens von etwas, das zu verlieren nicht notwendig war. Ein großer Teil dessen, was zur deutschen, ja europäischen Kultur gehörte, war für lange Zeit heimatlos, ortlos geworden, exterritorialisiert, nur noch im Reich des Geistes vorhanden, als Erinnerung, als Begriff. Der vom nationalsozialistischen Gebrauch kontaminierte Vers blockierte den Zugang zu einer Welt, die es davor gegeben hatte, und das Interesse an ihr stand, ob gewollt oder nicht, unter dem Verdacht, die Geschäfte der Ewiggestrigen zu betreiben. Ein gesellschaftlicher Konsens, der sich etabliert hat, schlägt sich in Sprachregelungen nieder, insbesondere in politisch sensiblen Bereichen. Es hatte seine Bedeutung, wenn sehr rasch in der SBZ nicht mehr von Flüchtlingen, sondern von Umsiedlern die Rede war, ebenso wie es bedeutsam war, dass man in der DDR Anfang der 1950er Jahre in einer fast an Selbstverleugnung grenzenden Anstrengung, aber korrekt von Wrocław und nicht von Breslau sprach. Semantische Nuancen reflektieren Zustände. Lange konnte man Befürworter und Gegner der neuen Ostpolitik daran erkennen, ob jemand von Kaliningrad oder von Königsberg, von Danzig oder Gdańsk sprach. Irgendwann war der Augenblick eingetreten, in dem Marion Gräfin Dönhoff ihren Erinnerungen den vielsagenden Titel geben konnte: »Namen, die keiner mehr nennt«. Und wie viele Ort nicht nur in Ostpreußen gab es, die keiner mehr nannte, und noch mehr, die keiner mehr kannte.
Nach all dem Gesagten dürfte klar sein: Ich plädiere nicht für die Wiederaufnahme jener Verszeile »Von der Maas bis an die Memel …«. Wir sind nach der katastrophischen und verwirrenden Geschichte des letzten Jahrhunderts – glücklicherweise oder nicht – auf die letzte Strophe geschrumpft. Was ich aber doch meine, ist, dass ein nicht selten zu beobachtender Alarmismus an diesem Punkt unangebracht ist und dass es vielmehr darauf ankommt, das große Kapitel, das so lange Zeit geschlossen oder ins Abseits gedrängt war, neu zu bearbeiten, und das heißt vor allem: aus der Enge eines bloß nationalen Narrativs herauszuholen und im europäischen Sinne neu zu interpretieren. Mein Plädoyer geht dahin, dass wir eine Europäisierung des Komplexes »Die Deutschen und die deutsche Kultur im östlichen Europa« brauchen, eine Reformulierung, die diese Geschichte aus dem völkischen Mief, der dieser Geschichte aus bekannten Gründen so lange angehaftet hat, herausholt, der sie aus der Randlage, in die dieses Thema ebenso wie die Vertriebenenmilieus mit ihren Kränkungen und Ressentiments geraten sind, herausholt und in die Mitte einer aufgeklärten und sich selbst sicher gewordenen deutschen Gesellschaft einbringt, die darin nicht eine Gefahr, eine Belastung, sondern einen Zuwachs an kulturellem Reichtum erkennt. Eine Arbeit, die eine »historische Last« in kulturelles Kapital verwandelt und aus einem Anlass der Trauer ein Schwungrad der Inspiration und der Zusammenarbeit zwischen den Deutschen und den Völkern des östlichen Europa macht.
Europa sortiert sich nach dem Wegfall der großen Trennlinie neu, und in diesem veränderten Europa findet auch der Komplex »Die Deutschen im östlichen Europa« seinen neuen, angemessenen Platz. Die Themen, um die es dabei geht, sind so reich wie die über 8oo-jährige Geschichte, die dahintersteckt. Wo immer wir im östlichen Europa unterwegs sind, bekommen wir es, wenn wir nur interessiert und aufmerksam genug sind, zu sehen. Die Skyline der Hansestädte, die Denkmäler für Johann Gottfried Herder und Richard Wagner in Riga, die Straße in Vilnius, an der die Große Synagoge lag und die einmal die Deutsche Straße hieß, die Pastoren- und Gelehrtendynastien,
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