Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
die zur kulturellen Geographie Estlands und Livlands gehörten, die Herrenhäuser in Kurland, in denen Volker Schlöndorffs Film »Fangschuss« spielt, der vom Ende der deutsch-baltischen Welt handelt. Das kann das weitgehend erhaltene Gebäude der Königsberger Universität Albertina sein mit der Kopie des Kant-Denkmals davor oder das Kant-Mausoleum an der Nordostseite des Domes. Das Haff, die Kurische Nehrung – Traumlandschaften mit Kieferwäldern und Dünen, verdeckt von den Schwarz-Weiß-Bildern von den Flüchtlingstrecks auf dem Eis. Johannes Bobrowskis Geburtshaus in Tilsit, heute Sowjetsk. Vergebliche Suche nach dem Wohnhaus der Hannah Arendt in der Tiergartenstraße, wo sie, die Königsberger Jüdin, aufgewachsen war. Erich Mendelsohns Meisterwerke in Alleinstein, Königsberg, Breslau. Hans Scharoun, den Erbauer dieses Hauses, in dem die heutige Feier stattfindet, nicht zu vergessen, der seine originellsten Frühwerke – das Ledigenheim – im Breslauer Villenviertel Scheitnig gebaut hat. Wir können die Orte nicht aufzählen, deren unzerstörte Physiognomie in Photos und Karten vor dem Krieg fixiert ist und die danach von Fremden, selber oft vertrieben, genutzt, in Betrieb genommen und zu einem zweiten Leben erweckt worden sind. Überall sind Spuren: Häuser, Friedhöfe, Denkmäler, Plätze, Straßenzüge. Diese Arbeit der Spurensicherung ist längst im Gange, vor allem vor Ort, denn die neuen Einwohner dieser Gebiete wissen, dass sie sich dort nicht einrichten können, ohne auch die Vorgeschichte kennenzulernen und sie sich zu eigen zu machen. Es gibt keine halbwegs angemessene und wahrhaftige Geschichte der Stadt Königsberg/Kaliningrad, die nicht der Tatsache Rechnung trägt, dass es sich um eine Doppelstadt handelt, um eine Stadt mit mehr als nur einer Vergangenheit. Breslau ist Wrocław, Breslaw, Civitas Vratislaviensis. Keine Prager Moderne, keine Prager Literatur ohne den Anteil aller, die sie hervorgebracht haben – Deutsche, Juden, Tschechen. Kein »Gelobtes Land« im »Manchester des Ostens«, wie Łódź hieß, bevor es zu Litzmannstadt wurde, ohne die »Łódźer Menschen« – also Deutsche, Polen, Juden, Armenier, Russen. Wie arm wäre die neuere deutsche Literatur ohne die meist von jüdischen Autoren in Czernowitz geschriebene! Diese Geschichte zu beschreiben, zu erzählen ist alles andere als einfach: Man muss sich in den Sprachen der Länder, in denen Deutsche lebten, auskennen, um – buchstäblich – Kontexte erfassen zu können. Das Lateinische damals und das Englische heute ist vielleicht die beste Form, in der der nationale Antagonismus – wenigstens semantisch – überwunden ist; man muss im wahrsten Sinne des Wortes transnational und interkulturell agieren, auch wenn dies inzwischen inflationäre Modewörter geworden sind. Man muss das ganze Register der Kulturgeschichte beherrschen – von den Rechtsformen bis hin zur Wirkung von Infrastruktur- und Modernisierungsprozessen. Das ist ein großes Projekt, und ich wünschte mir seit langem, dass diese Arbeit im Herzen der Wissenschaft, in den Universitäten, betrieben wird, nicht irgendwohin ausgelagert.
Die Geschichte der Deutschen im östlichen Europa ist nie nur eine Geschichte der Deutschen gewesen, sondern lässt sich nur angemessen erforschen, darstellen und erzählen als eine Geschichte der Überlagerungen, der spannungsreichen Beziehungen. Wie alle Geschichte ist sie gemischte, unreine Geschichte: voll von Animositäten, Hassreden, Verdächtigungen, Schuldzuweisungen, Volkstumsrhetorik und sozialem Neid – aber über viele Jahrhunderte war es eben auch eine funktionierende Koexistenz, deren Verlust die Deutschen, aber nicht nur sie, ärmer gemacht hat. Die Zerstörung der Beziehungen nach Osten hin hat die Deutschen aus einem reichen Kulturzusammenhang herauskatapultiert, und der Zugewinn an Weltläufigkeit nach 1945 – wenigstens im westlich-offenen Teil des Landes – kompensiert kaum die Selbstprovinzialisierung, die mit dem Verlust der Beziehungen nach Osten hin über die Deutschen gekommen ist. Es ist Zeit, sich umzusehen, ohne Rechthaberei. Die Revisionismen haben sich überlebt, haben sich erledigt, wenn auch nicht ganz von selbst. Wir sind nach 1989 in einer Situation, in der wir uns unsere Geschichte erzählen und sie anhören können, ohne auszurasten. Es ist nicht einmal notwendig, die eine und einzig wahre integrale Erzählung zu konstruieren, was ohne ein Moment von Angestrengtheit und Gewaltsamkeit
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